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2024-11-15 14:47:18, Jamal

„Wenn zwei gegensätzliche Standpunkte gleichermaßen energisch vertreten werden, liegt die Wahrheit nicht zwangsläufig in der Mitte. Möglicherweise hat auch eine Seite einfach Unrecht.“ Richard Dawkins

In der Kelter

Die Haustür steht offen, die Wohnungstür auch. Jugendstile, so weit das Auge reicht. Unangefochten gelange ich in einen Korridor mit verhängten Spiegeln. Dreißig Leute in vier Räumen … und kein Mensch braucht eine Auskunft. Man lagert in Rauchwolken. Ich könnte mich irgendwo dazusetzen. Ich setze mich ins Treppenhaus.

Ich spüre eine Bewegung in meinem Rücken und ahne einen unvollkommenen Paarlauf … von Leuten, die sich gegenseitig stützen, nachdem sie zu lange im Schneidersitz ausgeharrt haben. Ihr Zustand belustigt sie. Ich fasse zuerst die Männer ins Auge. Da schwanken Babu und Kurt. Kurt, Sohn und Erbe des Burgwirts Otto Wundersamen, klammert sich an eine mir Unbekannte.  

Zwanzig Jahre später

Die Unbekannte war Jana. Die größte Liebesgeschichte meines Lebens ging los mit einer Sekundenbegegnung in einem vormals gediegenen Treppenhaus. Repräsentationselemente der Belle Epoque gaben die Folie ab für dummdreist hingeschmierte Politparolen. 

Mit kaum vierzig zählt Babu bereits zu den alten Zauseln im Viertel. Er firmiert als „lebendes Inventar“ an seinem Arbeitsplatz in der Burg. Da arbeitet er seit seinem Schulabbruch. Nominell verlief seine Laufbahn im Stil des verbummelten Studenten, der mit dreißig noch nicht aus dem Knick gekommen ist und sich mit Jobs über Wasser hält. Eine Dekade später spielt der beinah akademische Background keine Rolle mehr. Dann gehört so jemand zu den Verkrachten.

Kein Mensch sagt mehr Babu. Mein Cousin ist schon lange der Kesselmann. Ich verwende im Folgenden diesen Namen, auch wenn dabei stets mein Nachname angesprochen wird.  

Kesselmann lebt vom Bestand und spielt auf Halten. Im Gegensatz zu ihm hatten die Akteure der Zukunft unserer Generation alles schon mit dreißig. Das Abenteuer Stadt endete mit der Geburt des ersten Kindes. Die Siegerinnen haben sich längst ins Frankfurter Umland verabschiedet - von Ausnahmen abgesehen.  

Hello again an einem Herbsttag, der für Kesselmann übel anfängt. Viel zu viel Milch ist in dem Milchkaffee, den Franz Horn persönlich aufschäumt, da die Frühschicht zu spät. Schon wieder, muss man sagen, noch verquollen vom letzten Feierabend, der vorhin erst zu Ende gegangen ist. Das läuft auf die Vorformulierung einer Kündigung hinaus, in aller vorsichtiger Vorläufigkeit. Franz trägt einen Panther im Knastbruderstil auf dem Arm. Kesselmann wirft noch einen Blick in die taz. Er hat sich komplett proletarisiert. Dies wissen alle, die im Nordend von Gestern sind. Das alte Betriebsfleisch, die Erben und Professoren und die Angestellten in ihren besten Jahren. Ihre eigene Verdrängung nehmen sie kaum wahr. Die Abwärtsbewegungen in der Nachbarschaft haben aber ihre Genauigkeit.

Kesselmann schaufelt wieder Äpfel in die Bütte. Die Mühle zerlegt sie seufzend. In dem Geruch der Maische ploppt schon die Hefe. Schon lange kommen keine Leute mehr, um den Süßen direkt aus der Kelter zu holen. Selbst für Folklore taugen die Prozesse der Apfelweingewinnung nicht mehr. Die Hände schwitzen in den Haushaltshandschuhen, dem Kollegen Mandelstam kommt der Schwung abhanden. Mandelstam ist Geburtsfrankfurter und stolz darauf. Er fühlt sich König Kurt (dem amtierenden Wundersamen) verwandt. Diese Illusion deutet Kesselmann als Herkunftsprodukt aus heimischer Phantasie. Besessen und vernagelt erscheint ihm die Eigenliebe des anderen.

Mandelstam keltert zum ersten Mal, obwohl er schon zehn Jahre im Dienst der Burg steht. Er weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber Kesselmann weiß es aus Erfahrung, und der König weiß es auch aus Instinkt.

Die Verachtung schoss mit der Muttermilch auf das weiche Ziel des Säuglings. Sie wohnte mit den Leuten zusammen wie der Schwamm im Gebälk. Sie saß fest im Sattel der Verhältnisse, die ganz natürlich nach Gärung rochen und nach Fremden, die sich willkommener fühlen sollten als der Sohn. Die Fallen der Verachtung waren zahlreicher als die Mausefallen. Kein Wort davon vor den Gästen. Die Großeltern fielen geradezu einvernehmlich im Kampf ums gastronomische Dasein, bevor Kurt alt genug für die Einschulung war. Mit ihnen verabschiedete sich ein mildes Element. Etwas Mäßigendes. Der Vater fand an seiner Arbeit keinen Gefallen, er verrichtete sie wie einen Frondienst. In seinen öffentlichen Stunden verbarg er sich in dem alten Militärmantel Jovialität. Er musste seine Gäste heimlich verachten. Für sein Amt war er bei Weiten zu ungesellig. Er warf sich vor, einen Versager gezeugt zu haben. Er forderte auch von seiner Frau einen hohen Preis für den geheirateten Wohlstand. Kein Kellner blieb bei ihm. Sein Zustand war die Erbitterung.