Einpersonenrandgruppe
Sie will rauchen. Noch einen Wein. Es darf Grauburgunder sein. Heidemarie hat mal wieder vor zwanzig Zahlenden alles gegeben und dabei eine Begeisterungskulisse wie bei einem zehnmal größeren Auditorium geschaffen. Wie immer, wenn sie die Bühne des Gernegroß bespielt, ist das Personal geschlossen zur Stelle. Tanja schenkt nach, wir streifen uns in den freundschaftlichen Akten der Bewirtung. Unser Lebenswandel nimmt uns füreinander ein. Ich freue mich jedes Mal auf die gemeinsame Dienstagsschicht. Inzwischen teilen wir uns sogar die Vorfreude telefonisch mit. Es ist so perfekt mit Tanja.
Ich habe den Job nicht nötig. Doch seit meiner letzten Trennung fällt mir daheim die Decke auf den Kopf. Deshalb habe ich zwei Schichten am Gernegroß-Tresen übernommen.
„Die Menschen des Mittelalters haben doch auf das Irdische nichts gegeben. Die wollten in den Himmel kommen und die Hölle vermeiden. Darum ging es denen. Nun stellt euch vor, so ein Typ aus dem Mittelalter würde in die Gegenwart befördert. Was dann los wäre.“
Mein Cousin Babu redet so, auch wenn ihm keiner zuhört. Um elf sind bei ihm schon alle Lampen an. Er ist als Gast im Gernegroß. Das macht nichts besser. Ich registriere die Signale der Gereiztheit bei den Kolleginnen. Lauter Ausrufezeichen der Verachtung. Besonders ausdrucksstark in ihrem Willen zur Abfälligkeit ist Tanja, während andere eher behutsam angreifen.
Babu ist ein lästiger Verehrer. Man darf von ihm nichts Zusammenhängendes oder zum Thema Passendes erwarten. Er spannt Heidemarie vor den Karren seines Jammertals: „Du könntest aus einem Telefonbuch singen und mir kämen immer noch die Tränen.“
„Das hat Boris Vian über Édith Piaf gesagt“, weiß Tanja.
„Boris wer?“, fragt Britta. Sofort geht das los: „Es gibt nur einen Boris und der heißt Rudi Völler.“
Britta hat einen Selbstversuch an ihren Haaren vorgenommen, der mit einer Not-OP von einem Hagestolz seines Fachs auf der Goethestraße korrigiert werden musste. Babu kauft Heidemarie ein Buch ab und lässt es sich für Tanja signieren.
„Was soll ich damit?“, fragt Tanja.
Jemand muss unbedingt Teelichte bestellen, die mit vier Stunden Brenndauer, hundert Stück für vierneunzig.
*
„Du weißt nicht, was ormigen bedeutet?“ fragt Babu eine halbe Stunde später. Ich gebe meine Ahnungslosigkeit zu, das fällt mir nicht schwer.
„Ormig war ein Ostberliner Hersteller von Matrizendruckern“, erklärt Babu mit seinem verheften Kathederkopf. „Die Apparate wurden in der DDR samt und sonders registriert. Dieser Staat fürchtete bis zu seinem Untergang alle möglichen Verbreitungswege der freien Rede.“
Wenn schon. Viel interessanter finde ich die ultrahessische Schleife in seiner Rede. Im Dunnast, wie Tanja sagen würde, kommen bei Babu silbenseltsame Verbindungen von komplizierten Wörtern und volkstümlichen Betonungen zustande. Ich lege die Schürze ab, froh in Erwartung eines Moments der Ruhe vor gekachelter Kulisse. Ich habe viel Zeit in Kneipen verbracht und dabei meine Sinne geschärft: für all die Nebensachen und für den noch nicht ganz aufgegebenen und deshalb zum Beispiel in der Sanitärsphäre abgestellten Kram, so wie Schirmständer, Vasen, Telefonbücher und Schnapsglaskollektionen. Ich sehe so was gern, keine Ahnung warum.
Durch die geschlossene Scheißhaustür vernehme ich Eintrachtgefasel. Die Koksbaroness unterhält den Fürsten der Finsternis mit Fußballwissen. Das sind Figuren aus der gastronomischen Nachbarschaft des Gernegroß. Das Kabarett teilt Haus und Klo mit der sagenhaften Burgschänke. Um Präsenz zu zeigen, trete ich gegen die Tür. Die Baroness reißt die Tür auf und fragt:
„Weißt du, warum mein Hausarzt seine Praxis im dritten Stock hat?“
Auf ihrem Shirt steht Fühlt euch alle gevierteilt. Einen Fanschal trägt sie als Schärpe. Das gibt ihr etwas von einer lateinamerikanischen Freiheitskämpferin mit neapolitanischen Vorfahrinnen. Neben ihr erscheint der Fürst wie ein zerknautschter Außerirdischer mit durchsichtigen Ohren und heruntergelassenen Hosen. Vollkommen gleichgültig, aber keineswegs weggetreten thront er auf dem Klodeckel.
„Was redest du mit dem Arsch?“ fragt er.
„Gibs doch zu, wenn du‘s nicht weißt“, verlangt die Baroness, während sie ihren von perlendem Schweiss genoppten Busen unwirsch zurechtrückt. Unter den Pinkelbecken verläuft immer noch die alte Pissrinne, dieser Klondike des Klosteins.
„Der weiß doch gar nichts, genau wie Hennie Nachtsheim“, sagt der Fürst.
Die Baroness bedenkt ihn mit einem zweifelnd-forschenden Blick.
„Das Arschloch“, kartet der Fürst nach.
„Damit kein Gehbehinderter kommt“, erklärt die Baroness. „Das hättest du dir auch denken können.“
Der Fürst: „Der kann doch überhaupt nicht denken.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, entgegnet die Baroness, abrupt von einem Sinneswandel bis zur Nachdenklichkeit erfasst. (Immer wieder schön, Leute in die Nachdenklichkeit abgleiten zu sehen, die sich der Voraussetzungen für Nachdenklichkeit längst begeben haben.) Fast sacht schließt sie die Tür.
„Ich wünschte, ich hätte mal nicht recht.“
Das klingt aufrichtig gequält.
In monumentaler Wiederholungsbereitschaft seiner Vorurteile verlangt Nasenschweiss verkündungslaut, dass ich mit ihm gemeinsam Babu für die Nummer Eins unter unseren Crashdummies halten soll. Selbst in seinen schlichten Ablehnungen wirkt der Gernegroß-Gründer belehrend. Ich speise ihn mit einer Notdurft von Zustimmung ab, mein Opportunismus rollt mir die Zehennägel auf.
Babu scheint auf seinen Ohren zu sitzen. Seit einiger Zeit residiert er mehr oder weniger als Einpersonenrandgruppe vor der Rückwand des Geschirrschranks. Nach der Hausordnung im Gernegroß ist das der letzte Platz am Tresen. Ich bin noch nie in die Verlegenheit gekommen, ihn einzunehmen.