„All das, was wir erleben, hat jemand bereits gelebt: all die Sehnsüchte, den Schmerz, aus eigener Kraft etwas schaffen zu wollen." Tomas Tranströmer
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Der Historiker Christopher Lasch, von dem nebenbei die bemerkenswerte Einsicht stammt: „Je höher das Ansehen der Achtsamkeit steigt, desto näher (rückt) der Kollaps der Gesellschaft“, erkannte in den 1970er Jahren eine Korrelation zwischen narzisstischen Störungen, die psychiatrischer Behandlung bedürfen, und dem Auftritt der Narzissten auf allen gesellschaftlichen Bühnen. Für Lasch ist Narzissmus die psychische Antwort „auf die Bilderflut und den Massenkonsum“. Narzissmus sei die beste Art, „die Ängste des modernen Lebens zu ertragen“.
Melancholische Treseninschrift
Mit der Plötzlichkeit eines Überfalls und so verspätet wie die Bundesbahn kehrt der Sommer im Nordend ein. Noch einmal putzt sich alles heraus, wie um der Erkenntnis Vorschub zu leisten, dass alles nur für den Augenblick gemacht ist. Wir wenden uns, wie man in sparsamen Zeiten abgetragene Garnituren wendet, und leuchten ein bisschen mit. Das ist mein Bild von der Lage im aufgewühlten Garten des Gernegroß. Weil Kabarettchef Nasenschweiß so ein origineller Kopf ist, findet unsere Weihnachtsfeier im Mai statt.
Er wendet Lammbratwürste auf dem Grill. Der Grill ist eine Reliquie aus der Gernegroß-Gründungsära. Manche wissen sowas, anderen darf das egal sein. Um die Lesenden nicht mit zu vielen Namen zu verwirren, beschränke ich mich auf das eingeführte Personal, sieht man von Maya ab. Valerie, Tanja, Britta, Leonie, Tine, Simone und Maya stecken erregt ihre Köpfe zusammen. Die meisten Gernecrossies sind blond und weiblich. Das hat sich in vielen Einstellungsgesprächen so ergeben. Die Einstellungsgespräche wurden von dem tendenziell zölibatär lebenden Nasenschweiß geführt.
Junge Frauen am Tresen wirken magnetisch: das darf man zwar nicht sagen, aber wenn beim Durchzählen kaum ein männlicher Name fällt, was sagt uns das dann. Das ist keine Frage. Deshalb fehlt das Fragezeichen.
Was außerdem anliegt - der Künstlerkühlschrank muss abgetaut werden. Der Rollladen im Technikerraum ist kaputt. Eine melancholische Treseninschrift wurde mit unschönem Resultat abgeschliffen. Barchefin Leonie erwägt die Einführung einer Putzschicht für die Servicekräfte; dies im Zuge des Sparzwangs.
„Dat häff mi dächt“, erklärt Tanja entgegenkommend. Sie hat für mich eine Element of Crime-CD gebrannt und das gute Küstengras mitgebracht, direkt von der Ostsee-Wasserkante. Zugestellt wurde ihr der Stoff von einem geheimnisvollen Emissär. Er dräut in den Erzählungen der letzten Woche, gesehen wurde Tanja mit ihm in der Bornheimer Sonderbar und außerdem in der sehr speziellen Jever-Kneipe auf dem Sandweg, wo nur Sankt Pauli-, HSV- und Werder Bremen-Spiele gezeigt werden. Nord heißt der Laden gleich neben dem Mampf. War früher ein unangenehmes Café.
Tanja gibt dem Schoss die Hände. Sie errichtet sich nach Maßgabe ihrer Rückenschule. Erst jetzt bemerke ich, dass sie Wanderschuhe trägt.
Zwischen grauenerregend und Frauen erregend liegt ein Buchstabe und mehr nicht, erklärt ungefragt Schauspieler Freilich. Er lässt sein Komparsen-Hartz IV zu „Drehterminen“ aufrauschen und bespricht Zukunftsfragen am liebsten mit jungen Frauen am Tresen. Ganz so, als hinge seine Zukunft nicht bei den vergessenen Sachen neben der Durchreiche an einem verbogenen Haken, sondern immer noch im Foyer des Staatstheaters von Witzenhausen, wo Freilich vierzig Jahre den Durchbruch verpasst hat. In der Zwischenzeit flogen Menschen zum Mond, die DDR gab ihren Geist auf, der elektronische Tortenheber wurde erfunden und Peer Kusmagk erlebte seine Erhebung zum Dschungelkönig.
Mitunter erscheint das Gernegroß als Zuflucht für Seelenstümper im Endstadium. Freilich legt unverfroren eine Hand auf Tines dekorativ bestrumpften Schenkel. Das soll nichts bedeuten. Tine ist Apfelweinkönigin auf Lebenszeit. Das Gernegroß duckt sich unter ihrem Wohnzimmerfenster. Tine hat noch nie in ihrem Leben einen Nachsendeantrag gestellt. Ich stehe auf der Liste ihrer ewigen Verehrer und kann deshalb bei gegenseitigem Bedarf auf ihre Huld zurückgreifen. Das ist ein sehr schönes Arrangement unter der Hand, der diskrete Charme der Bourgeoisie auf Hessisch.
Tine schiebt ungerührt die Hand weg. Sie ahndet den Verstoß gegen die Hausordnung mit einer verdeckten Strafaktion. Aus Versehen kippt sie Freilich sein eigenes Bier in den Schoss. Sie sagt „Hoppla“. Das ist der reine Hohn.
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Ein später Vater stellt sein Glück auf der Rohrbachstraße aus. Das Leben will noch was von ihm. Da ist eine Frau, die ihren Arbeitsplatz, eine Metzgerei in der Humboldtstraße, jeden Tag aus dem Umland erreicht, und die dörfliche Ordnung ihres Feierabends zum Gegenstand einer ständigen Schwärmerei macht. Sie erledigt ihre Aufgaben unentwegt plaudernd (in einem Zustand geschäftiger Aufgeräumtheit).
Nun gibt es auch im Holzhausenpark eine Bewirtungsgelegenheit. Als das Ding aufgebaut wurde, dachte ich, es sollte darin Kunst in den Park gebracht werden. Der Park war Jahrhunderte ein Garten.