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2024-11-19 09:46:43, Jamal

Kein Spiel für höhere Chargen

Der Feind meldet sich, eine verbrannte Fläche liegt zwischen den Parteien, der Feind kombiniert Steil- mit Flachfeuer. Er ist besser ausgerüstet und militärisch effektiver als die Aufklärung es dem Expeditionscorps weismachen wollte, Trooper rutschen wie losgelassene Puppen tiefer in ihre Löcher. Der Lieutenant fällt auf die Knie, er sieht verärgert und mit Dreck beworfen aus, der Kopf schlägt auf. Ständig fallen Offiziere. Scheint kein Spiel für höhere Chargen zu sein, denkt Staff Sergeant Floyd Amsterdam aus Buffalo, Minnesota. Er ist jetzt wieder Zugführer.

Der Zug sickert in eine Kraterlandschaft. Anspannung verwandelt versehrte Bäume in Totempfähle. Corporal Clay Raymond aus Laramie, Wyoming, schaltet einen Scharfschützen aus. Er findet ein totes Mädchen da, wo er die Leiche eines Mannes vermutete. Jemand zieht unter Leichen ein lebendes Kind hervor. Amsterdam sorgt dafür, dass dem Kind nichts geschieht. Die Männer finden Verschonung falsch. Clay bleibt für sich, er camoufliert ein Interesse. Er sieht die Sache an wie einen Hahnenkampf. In Wyoming nennt man Bullenhoden Texas Austern, Clay wurde im Bordell seines Vaters aufgeklärt, er setzt auf Amsterdam. Verachtung nimmt der Furcht den Stachel. Der Sergeant erzählt Witze, die seine Überlegenheit unterstreichen. Er hält Abstand, nichts deutet auf Verschleiß. Clay genießt Amsterdams Anerkennung. Sie zählt mehr als die Bewunderung der Vielen, („Fabrikware der Natur“, Nietzsche) die nur tun, was nicht zu vermeiden ist. Unerklärte Kriegsdienstverweigerer. „In diesem Land töten Kinder Männer, die zu ihrer Befreiung gekommen sind“, notiert Clay. Eine Ewigkeit später stellt ihn Amsterdam Freunden und Nachbarn auf einem Hoffest in Frankfurt am Main vor: „Der beste Mann, dem ich je zu befehlen hatte!“

Sprung in der Schüssel

Aus diesem Krieg werden keine Erinnerungsvereine mit Pauken und Trompeten hervorgehen, denkt Clay. Es wird gleich alles vergessen oder für immer Schande sein. Clay Raymond sinkt in einem vollgelaufenen Graben. Das Brackwasser schwitzt Fäulnis. Es stinkt nach Lilien. Gespenster aus Nässe hängen leger wie Orang Utans in Bäumen. Ein Schuss fällt dem Gespräch des Waldes ins Wort. Feuerschiffe streichen über Wipfel, ihre Flügel segeln. Feuerschiffe - fliegende Kanonenboote - Gunships. 

Clay ist Nomade in zweiter Generation. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Autos und Wohnwagen verbracht. Er deckte Dächer, falls es sich ergab. Sich zu wundern, liegt ihm fern. Das Leben ist noch verrückter als Scheiße, während der Tet-Offensive trafen Clay Splitter einer Claymore-Mine. Man flickte ihn in Japan zusammen. Der Krieg ist nur eben so sinnlos wie alles andere. Clays Fatalismus passt ihn an, sein Wahnsinn passt zu dem, was unvermeidlich scheint. Man muss Glück haben, das ist sein Standpunkt.

Kein Anlageberater und kein Versicherungsvertreter könnten Clay je überzeugen. Clay kommt ohne Erklärungen aus. Er findet die Gattung stark in der Erwartung und schwach in der Erfüllung. Besser ist, man wünscht sich nichts. Clay trottet mit, was er nicht alles schon gesehen hat. Zum Beispiel Trooper, die vor Erschöpfung schwachsinnig geworden sind.  

Die Männer streichen an Binh Phu vorbei, sie operieren in der Provinz Dinh Tuong, siebzig Kilometer vor Saigon. Eine Vorstellung des Feldtheaters der Nationalen Befreiungsfront bannt das Dorf. Ein gelber Stern auf blaurotem Grund behauptet Hoheit. Schauspieler rufen: „Hoan ho hoa binh“ – es lebe der Frieden. Das ist eine Kampfansage, die Clay nicht versteht. Er weiß immerhin, dass sich die Provisorische Revolutionsregierung in der Gegend festgesetzt hat. Clay vermutet eine Lockheed YO-3 im Himmel über dem Kommando, ein leises Flugzeug. Near-silence. Die Männer stolpern zum Fluss, sie bewegen sich am Rand einer Mondlandschaft. Der Landschaft ist die B-52 erschienen. Insekten fallen über die Männer her wie über Aas. Manchen fehlte die Kraft, sich eine Fliege von der Nase zu wedeln.

„Giang Song“ sagen Vietnamesen zu ihrer Heimat – Berg und Fluss. Clay riecht Terpentin in den Schwaden auf dem Mekong. Er riecht das Patschuli der exaltierten Deutschen in ihrem Bett. Irm glaubt, Clay sei vom Marathon-Töten aus der Fassung gedreht worden. Amerikanische Einheiten erfüllen „ein Wochensoll an toten Feinden“, sogar ermordete Kinder listen sie als Vietkongs, Irm berichtete darüber auf einer Wandzeitung. Zuerst hoffte sie, von Clay mehr über „das Töten am Fließband eines verbrecherischen Krieges“ zu erfahren. Auf diese Überschrift ist sie stolz. Inzwischen versteht Irm, dass sie von Clay nichts erfahren wird. Sie trennt sich gerade von Wolf, einem Betriebsrat, der Pearl S. Buck für den Gipfel der Literatur hält.

„Das Geschäftsjahr war für Krauss-Maffei sehr erfolgreich“, steht in der Zeitung, neben dem Bett liegengelassen von Wolf. Irms Mutter besteht auf ein richtiges Bett. Der Erfolg hört auf den Namen Leopard (Panzer). Auch das geht an Clay vorbei, Irm kommt gerade vom neunten Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Wolf hat sich in Berlin sehr um sie bemüht. Wegen ihr besuchten sie die documenta auf der Heimreise. Immer mehr Künstler sind so weit, sich zu organisieren. Irm hat den Kongress als Revisionisten-Veranstaltung und die documenta als „bourgeoisen Nonsens“ abgeschrieben. Sie braucht einen radikaleren Geliebten, um selbst entschlossener sein zu können.    

Sie liegen unter einem Himmel aus durchhängenden Tüchern. In der Küche ist Streit. Die Genossen sind gereizt. In den Hamburger Kollektivbüros von Grönewolf, Reinhardt und Degenhardt wurden Brandsätze gezündet. Reinhardt vertritt Gudrun Ensslin, die Genossen machen Generalbundesanwalt Ludwig Martin für den Terror von rechts verantwortlich. Wolf führt das große Wort, das bedeutet, die stets besser als der Rest Informierten ziehen um die Häuser. Wolf führt den Rest an, Irm zählt sich nicht mehr dazu. Politisch ist Clay Idiot, wenn nicht Schlimmeres. Warum distanziert er sich nicht vom amerikanischen Imperialismus und seinen Verbrechen?  

Clays Sprung in der Schüssel hat die Armeeführung als Talent erkannt. Clay glaubt, dass die Toten von seiner Hand ihn um ihren Tod baten. In manchen Wohngemeinschaften sind die Türen ausgehängt, das kommt für Irm nicht in Frage. Sie stolpert über ihre bürgerliche Schamgrenze, sie weiß, dass sie eine Charaktermaske trägt, so wie ihr klar ist, dass der Kapitalismus von seinem Ursprung und Kern her einseitig quantitativ ausgerichtet ist: auf das Hervorbringen immer größerer Warenmengen, von denen Irm jede Menge schick findet. Das ist falsch, geboren aus falschem Bewusstsein. Aber was soll der Geiz, die Gier ist nun einmal da und vorhanden und nicht zu verleugnen. Dann kann Irm auch mit einem Reaktionär schlafen. Ihr Orgasmus lässt die Wohngemeinschaft aufhorchen, man guckt, wie Wolf es aufnimmt. 

Wolf hat die Nacht mit Daniela verbracht. Irm nennt sich unsolidarisch, findet aber trotzdem, dass Daniela politisch unreif ist. Wolf hätte auch nicht so schnell zur Tagesordnung übergehen müssen. Er scheint Irm genauso unreif wie Daniela zu sein. Jedenfalls ist Irm nicht bereit, Brötchen zu holen, obwohl sie den kleinen Spaziergang zum Bäcker gern unternimmt. Ihr gefallen die Spielarten bürgerlicher Tierhaltung. Stets sieht sie nach den verlorenen Männern auf Grünflächenbänken, die sich nur noch mit Flaschen abgeben. Wolf fühlt sich herausgefordert von diesem Amerikaner, der dem Ausrottungskrieg gegen das vietnamesische Volk diente - und wie Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“ auftritt.  

In der Küche steht ein gemauerter Herd in einem Rechteck geborstener Fliesen.