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2024-11-20 13:20:59, Jamal

„Guck nicht, halt's Maul und geh weiter.“ Badesalz

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„Er aber hatte das Problem, dass sich die Geläufigkeit seiner Erfahrungen zu verflüchtigen schien und unbekannte Nebenreize sich in den Vordergrund schoben.“ Wilhelm Genazino

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„In südlichen Ländern natürlich war der Sand leicht und lose; ein Wind konnte – das war nachgewiesen – Körner um die ganze Erde tragen.“ Gottfried Benn

Gerissener Faden

Alles scheint gut, doch plötzlich reißt der Faden. Unter einer fadenscheinigen Ausrede sagt Hannes eine Verabredung ab. Tanja ist schockiert. Zum ersten Mal seit drei Tagen ist die Verbindung auf dem Drahtseil der sexuellen Spannung unterbrochen. Erst jetzt wird Tanja bewusst, dass sie die ganze Zeit erregt war, sogar zehn Minuten nach dem letzten Orgasmus und im Schlaf.

Die Erregung ist weg.

Tanja fühlt sich betäubt, zerlegt, verletzt, gedemütigt, erledigt. Sie ist einfach nur ein Häufchen Elend. Hannes kann das nie wieder gutmachen. Es ist, als würde man jemanden aus großer Höhe fallen lassen. Tanja flüchtet vor ihrer Depression ins Casablanca. Das Campuskino ist eine gesegnete Einrichtung. Studierende versammeln sich ungezwungen und vertraut im Vorführraum. Es fühlt sich an wie ein Stammestreffen. Viele Paare liegen in den Sitzreihen. Tanja beneidet jedes Paar. Alle plaudern, rascheln und beantworten Telefonanrufe, während „Chronique sexuells d‘un famille au jourdhui“ läuft. Dies ist ein Film für die ganze Familie. Eine Ehefrau und Mutter machen sich Sorgen um das Sexualleben ihres verwitweten Schwiegervaters. Ihre innere Freiheit hat etwas Utopisches, und darauf zielt der Film ab: eine Familienutopie, die Wilhelm Reichs Einsicht Rechnung trägt, dass Triebverzicht ein Verrat an sich selbst ist.

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Gerade erzählte Grete Biergans, dass Hilfskoch Winnie sie gestern Nacht darum gebeten hat, ihn zu benutzen. „Das waren seine Worte“, sagte Grete. Sie ist eine voll tätowierte Schafferin. Die Volltätowierten vom Nordend Defenderlabel, diese Korea saufenden, vorgeblichen Homies, verehren Grete als Jeanne d'Arc im Quartier. - Als Garantin ihres Widerstands und ihrer Verweigerung. Im Zweifelsfall heißt der Widerstand Apfelwein, aber eben mit Cola gemischt, und die Verweigerung trifft am Härtesten den Genitiv. Hannes verdankt Grete den dritthärtesten Liebeskummer seines Lebens. Grete hat eine Bremsspur in Hannes' Hirn hinterlassen. So sieht das Hannes' Hirnforscherfreund Heinz Bindestrich.  

Hannes ist Grete egal bis zur Gleichgültigkeit, das nimmt er immer noch nicht entspannt zur Kenntnis. Nach wie vor liest er ihr Horoskop in der Fernsehzeitung, die König Kurt abonniert hat und die er in seiner Burgschänke als Lektüre für einsame Gäste vorrätig hält. Bei ihren Gästen unterscheidet Grete zwischen Patienten mit Anspruch auf Fürsorge und heillos Kranken. Ihre direkte Ansprache verstört. Stammgäste schwören aber auf Grete und haben sie zur Umsatzkönigin der Gaststätte Biergans gemacht. Winnie ist immer gut für zehn dunkle Weizen. An jedem Saufabend hat er seine dreiunddreißig Euro Minimum auf dem Deckel, und wenn Grete gut aufgelegt ist, lässt sie es noch einmal für wenigstens die Hälfte seiner üblichen Zeche komischen Text aufsagen. Dabei steigert sich Winnie von Mal zu Mal.

„Ich garantiere euch“, sagt Grete, während sie Heinz-Zwo zu verstehen gibt, dass er lästig wird, „demnächst will er, dass ich mir Schuhe mit hohen Absätzen zulege und ihm die Absätze, einen nach dem anderen, nach Feierabend behutsam sonst wohin schiebe.“

Grete äußert sich so ohne Verachtung und Erstaunen.

Im nächsten Moment sind Tanja und Hannes wieder vereint. Tanjas Erleichterung ist grenzenlos. Sie verzeiht Hannes sofort alles, obwohl er betrunken ist und sie nüchtern. Hauptsache, er ist wieder bei ihr. Es stellt sich die Frage: „Zu dir oder zu mir?“ Das hatten sie noch nicht. Die Aussicht auf die erste gemeinsame Nacht bringt Tanja dazu, die Bedingungen besprechen zu wollen. Sie will nicht überrumpelt werden. Sie hasst es, wenn ein Betrunkener beim Liebesspiel patzt, selbst wenn sie in ihn verliebt ist. Das soll mit Hannes nie passieren. Er ist ein Riese, der größte Fisch, den Tanja je an Land gezogen hat, aber das gibt ihm nicht das Recht, gewöhnlich zu werden. In Gedanken erklärt sie ihm: Ich brauche dich so sehr für ein gutes Leben. Ich bin sicher, dass du der perfekte Mann für mich bist. Aber du musst verstehen, dass ich dich nicht mehr lieben kann, wenn du einen Fehler auf der erotischen Tastatur machst. Das wird immer in meinem Kopf sein, wie der hallende Furz einer Person, von der mir übel wird.

„Ich würde dich gerne zu mir einladen“, sagt Tanja, „wenn du ein Spiel mit mir spielst, bevor wir zusammen einschlafen.“

Hannes ist nicht auf der Höhe. Die Erschöpfung reißt und nagt an der Haut unter seine Augen. Vielleicht verlangt Tanja einfach zu viel. Hat nicht jeder das Recht, ab und zu einfach nur durchzuhängen?

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Im Hof ​​unter Tanjas Küchenfenster streiten sich Nachtgestalten. Einer davon ist der allseits bekannte Fürst der Finsternis. Igor verwandelt das Haus, in dem Tanja wohnt, seelenruhig in eine Hehlerhöhle. Er handelt mit Sachen aus sogenannten Haushaltsauflösungen. Haushaltsauflösung ist ein Wort für Einbruch und Diebstahl.

Tanja bittet um Geduld. Sie braucht einen Moment der Vorbereitung. Sie lässt Hannes allein und zieht sich in ihr Wohnzimmer zurück, das gleichzeitig ihr Schlafzimmer ist. Sie entscheidet sich für ihr schwarzes Negligé. Sie überprüft ihr Äußeres, sie nimmt ihren Teil des Vertrags sehr ernst. Sie parfümiert sich. Sie holt Hannes aus der Küche und platziert ihn. Sie präsentiert sich und genießt die glühende Bewunderung. Jetzt ist alles wieder, wie es sein soll.