„Geduld ist die höfliche Cousine des Verzichts." Grégoire Delacourt
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In seinem Beitrag „Demografische Katastrophen der Menschheit" erinnert Matthias Glaubrecht, dass „Hungersnöte, Krankheiten und klimatische Veränderungen" von jeher die Menschheit begleiten.
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Bevor sie auf Andy Warhol schoss, befand Valerie Jean Solanas: „Das Leben in dieser Gesellschaft ist ein einziger Stumpfsinn, kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren, daher bleibt den aufgeklärten, verantwortungsbewussten und abenteuerlustigen Frauen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten."
Verschleppte Aufbrüche
„Sieht das hier so aus, als würden Gläser poliert?"
Im Dunstkreis des Buffets (hessisch für Tresen) hängt kein Geschirrtuch am Haken, das folgt einer Absicht und hat Tradition. Jana weiß von der Tradition nichts, sie wundert sich. Wie kann es sein, dass ihre kleine Frage den König zu Heftigkeit veranlasst, als hinge sonst was davon ab. Ihr doch egal, dass die Gläser nass ins Regal kommen. Der Dynast Kurt Wundersamen, sein Urgroßvater erwarb die Burg in den 1920er Jahren, baut sich vor der neuen Bedienung auf, in seiner ganzen adipösen Selbstgefälligkeit. Er wurde vom Personal zum König erhoben. Heute regiert er in einem voluminösen Strampelanzug. Er hebt den Buffet-Bembel aus dem Faulenzer (eine Kippvorrichtung für den Bembel), ein Trumm für achtunddreißig Schoppen, und geht damit zu den leeren Gläsern auf Tisch drei.
„Ihr seid nicht zum Spaß hier", sagt er zu zwei Verirrten, die keine Ahnung haben, wie man zum Apfelwein geht. Die Limonade auf dem Tisch ist König Kurt ein Dorn im Auge. Er schenkt nach bis zum Rand, in zutreffender Erwartung eines Protests.
„Wir wollten den nicht pur."
„So weit kommt es noch, dass ich euch bei dieser Süßspritzerei unterstütze. Das ist ein Sakrileg."
„Na, hören Sie mal, das ist doch unsere Entscheidung."
„Soll ich vielleicht für euch abtrinken?"
„Sie sollen sich benehmen, das ist ja wohl nicht zu viel verlangt."
„Ich schmeiß euch gleich raus."
Valerie und Tine kichern an Tisch sieben. Die beiden kennen sich ein Leben lang. Sie sind im Nordend geboren und geblieben. „Geschöpfe der Gegend" hat mal ein netter älterer Herr gesagt. Er war auch ein bisschen aufdringlich, so als ungebetener Spielplatzbesucher. Valerie wohnt sogar noch im Elternhaus ihrer Mutter, mit Ausblick auf den blauen Block der Burgschänke, zu dem das Kabarett Gernegroß gehört. Die Kleinkunstgarderobe ist in einem Anbau untergebracht, der früher die Werkstatt des Sattlermeister Schuster war. Er reparierte die Riemchen von Valeries Pumps. Ein Gärtchen, fürwahr nur Gestrüpp und Kies, trennt die Burg von der Straße. Einst war sie ein Wasserschloss weit vor den Toren der Stadt Frankfurt. Beim letzten deutschen Fürstenkongress in Frankfurt - im August 1863 - fand darin eine Geheimkonferenz statt. Die Zusammenkunft musste ohne den preußischen König Wilhelm I. auskommen. Er versagte ihr damit eine Reformchance des Deutschen Bundes, der dem 1806 liquidierten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nachkam. Mit seiner Abwesenheit brüskierte er zumal den österreichischen Kaiser Franz Josef. Bismarck hatte seinem Herrn zum Affront geraten.
Die Burg stand ursprünglich in einem Kreis von Burgen, die miteinander unterirdisch verbunden waren. Manche glauben, dass alle Gänge zugeschüttet und die Zugänge vermauert wurden. Wenige wissen es besser. Die Wände im Schankraum sind halbhoch mit Paneelen verkleidet. Das Einrichtungsholz scheint den Wurzeltrieb des Publikums zu fördern. Auf einer Holzbank hält einer die Tradition hoch, der zwölf Kinder großgezogen hat. Einer feiert einsam in seinen Geburtstag hinein. Ein greises Paar arbeitet sich an Gelbwurstpellen ab. Die Musik konkurriert mit Lüftungsgeräuschen.
Im Klo hat jemand seinem Liebeskummer schriftlich freien Lauf gelassen. Aus dem Seifenspender kommt nur Luft. Es gibt nichts zum Abtrocknen. Der Zigarettenautomat sagt vielen Dank und auf Wiedersehen.
„Feierabend", verkündet der König. Die Stammgäste trödeln in geordneten Bahnen, morgen ist auch noch ein Tag. Die sitzengebliebene Laufkundschaft braucht länger. Verschleppte Aufbrüche.