Das Burggespenst
Eine S-Bahn sinkt in einen Tunnel. Ein Auto fährt durch eine Pfütze. Babu ist zufrieden bei der Betrachtung eines Mittelstreifens.
All die Zufallsfunde, erotischen Kleinwunder ... Berührungen beim Friseur. Von einem alten Meister in der Mercatorstraße lässt er sich das Haar bis auf die Haut schneiden. Das Geschäft funktioniert nur noch wegen der alten Frauen, die sich dort gewohnheitsmäßig Dauerwellen errichten lassen … silberblaue Aufbauten. Sie haben ihre Welt im Prüfungsblick.
Babu beobachtet Fälle von Armutsprostitution, die so alltäglich daherkommen, dass noch nicht mal die Ratten scheu werden. Als somnambul auftretender Unbeteiligter ist er bei nächtlichen Schlägereien zugegen, die wie in Zeitlupe ausgetragen werden. Die Beteiligten sind zu beschädigt, um das Niveau normaler Bewegungsgeschwindigkeit zu erreichen. Die allseitigen Beeinträchtigungen schließen Verletzungen nicht aus.
„Ganz im Vertrauen“, sagt Franz zu Babu in der Weinstube, „ich kann das Wort Vorspeisenteller nicht mehr hören.“
Seine Züge sind angespannt, man ahnt aber noch etwas von einem großen Weltvertrauen, das Franz in besseren Zeiten Furore machen ließ. In dieser Saison ist der Vorspeisenteller ein Renner, Franz schnürt wie aufgezogen zwischen Küche und Theke hin und her. Seine Gäste reagieren gemütlich auf Wartezeiten, die sich deshalb ergeben. Sie haben es nicht eilig. Indem sie zum Wein einen Vorspeisenteller bestellen, bekennen sie sich zu einer Lebensart, die in der Weinstube Heimrecht hat. Wir gehören an dieser Stelle gern dazu, sagen sie mit jeder Bestellung, wir finden es angenehm so beieinander zu sitzen, während Franz seine eigenen Verhältnisse nur noch mit mother’s little helper erträgt.
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Inzwischen firmiert Babu als das Burggespenst. Das Gespenst schwärmt für die Küchenhilfe Hasi. Ihre vergrämte Grazie erinnert Babu an Geschichten von russischen Gräfinnen, die nach der Oktoberrevolution als Trottoirschwalben in Saloniki und Konstantinopel ihr Dasein fristen mussten. So wohlerzogen und diensteifrig wie Hasi kann ein volkstümlicher Charakter gar nicht sein.
Er umkreist die ledige Mutter. Hasi ist Slowakin und könnte an sich ein besseres Leben haben als mehrsprachige Technikerin. Dem König passt Babus Tändelei nicht. Er befiehlt ihn an den Herrentisch. Babu findet Kurts Verständnislosigkeit vorbildlich, es ist schon wieder drei Uhr morgens. Ein Knilch kratzt die Kurve. Der brave Mann zieht vor Kurt eine Schleimspur.
Die Eingeschworenen schreien nach Schnaps. Hasi muss Kurts Tafelrunde bedienen. Sie serviert einen Odenwälder Hausbrand, der von der Königin von Saba einst eingeführt wurde. Ihre gute Zeit ist lange vorbei. In der Kaschemme gleichen Namens verdient sie ihr Gnadenbrot mit Rentnern, die morgens ab acht Schöppchen und Hütchen (Asbach-Cola) bestellen.
Die Verschworenen (Eingeschweißten) stoßen auf das Nordend an. In dieser Gegend ist nichts älter als die Burg. Ihrer ursprünglichsten Gestalt nach war sie ein Wasserschloss, das im Dreißigjährigen Krieg zerschlagen wurde. Im faden Jetzt ist sie seit hundertfünfzig Jahren ein Wirtshaus und seit neunzig Jahren im Besitz der Familie Wundersamen. Die Dinge liegen nun so, dass nach dem bald vierzigjährigen Kurt kein Wundersamen mehr kommt, wenn nicht ein Wunder geschieht.
„Wir trinken noch was“, erklärt der König. Der Alkohol stimmt ihn versöhnlich. Er zählt mal wieder auf, was ihm alles gehört.
Um diese Zeit verschmäht Kurt den eigenen Apfelwein. Er bestellt bei Hasi einen weißen Rioja, der nicht auf der Karte steht. Den Wein bringt Franz Horn regelmäßig aus Spanien mit. Die eingesessenen Wirte verfügen durch die Bank über spanischen Besitz. Die meisten müssten nicht mehr arbeiten. Franz hat aber zu viel in den Sand gesetzt. Kurt könnte ihm mit dem Wechselgeld fürs Wochenende helfen. Er findet es unterhaltsamer zuzusehen, wie sich dieser Konkurrent im Überlebenskampf der finalen Niederlage nähert. Keine Gnade. Das Leben ist kein Wunschkonzert und den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.
Die Männer pumpen Rioja ab, setzen Schnaps als Brandbeschleuniger ein und rauchen Gras. Das Procedere folgt der Parole: Erst bescheißen wir das Finanzamt und dann wird gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen. Babu erscheint selbst der Schmutz im Schankraum glorreich. Er liebt die alte Pissrinne und das Geräusch klappernder Fensterläden.