Heimspiel am Berger Hang
Störbar wie wilde Tiere sind manche Stimmungen in der Stadt. Sie hängen vom Wetter ab und von der Tageszeit. Sie haben Lieblingsplätze, auf denen sie Monarchien errichten. Das sind Reiche, die zügig zerfallen. Oder verdunsten. Man entdeckt sie wie Lemuren, die an Ästen hängend dösen. Glück hat man, wenn das Kanu der Aufmerksamkeit in solche Stimmungen unbemerkt hineintreibt. Mitten in der Stadt steht man dann in einem Regenwald aus Empfindungen.
Der Tag wälzt sein Licht wie einen Heuballen über den Merianplatz. Geblendet versuchen Amerikaner ihre Lage zu erkennen. Bis zur Erschöpfung haben sie nach den in allen Prospekten versprochenen Sonderbarkeiten gesucht. Nun überfahren sie ihre blanken Schädel mit Taschentüchern.
Ein Amerikaner spricht mich an. Ich stelle mich taub. Alle Amerikaner entschuldigen sich. Ich bürde meiner Behinderung die Last einer Geistesschwäche auf, ich bin doppelt und dreifach geschlagen. Ich erfinde eine unverständliche Zeichensprache. Kann es ein anschaulicheres Beispiel für Vergeblichkeit geben als mein tragischer Wunsch, mich zu äußern? Wenn ich wenigstens bellen könnte.
Ich verzweifle. Das Publikum ist erschüttert. Es hat eine Not verschuldet, ohne Aussicht auf Abhilfe. Speichel tritt über den Lippenrand des taubstummen Idioten. Ihm wächst ein Buckel. Er verkrampft, ich erwäge, mich zum Spastiker zu steigern. Wie deutet man stehend eine Gehbehinderung an? Soll der arme Irre vor den verirrten Ausländern zusammenbrechen? Das erscheint überzogen, nicht aber, dass ein Bettler an ihm verloren gegangen sein könnte. Ich erlöse die Amerikaner. Im Ablasstaumel geben sie Kleingeld ab: sieben Euro und zwanzig Cent.
Jetzt erscheint der Theaterplatz wie eine Schlucht aus Wind. Ich sickere in die Kotfluchten am Main. Wie Stahl liegt der Fluss unter seinen Brücken. Die Stadt ist so großzügig, dass man umsonst in ihren Büschen pennen kann.
An einem anderen Tag
Am Morgen hatte der Wirt Kartoffeln bekommen, die Säcke standen in der Diele. Man war schließlich auf der Arbeit und nicht auf der Flucht. Auf der Speisetafel wurde ein Strammer Max für sieben Euro angeboten. Die Bildzeitung war ordentlich gefaltet. Sie sah gebügelt aus. Den Vormittag über blieb sie den Rentnern vorbehalten, die auf ihre Garderobe achteten und den Ruhestand als Karrieresprung betrachteten. Sie gingen äußerst sorgfältig mit der Zeitung um. Sie rückten auch an den Filzen mit zurechtweisenden Bewegungen herum.
Der Wirt ignorierte seine Gäste in gegenseitigem Einvernehmen. Die Frühbiertrinker wollten bis Mittag mit dem Wirt genauso nichts zu tun haben. Er hieß Karl May wie schon sein Vater und sein Großvater. Es war kaum zu glauben, aber schon viel zu lange so. Karl May hatte seine eigene Bildzeitung, seine eigene Tasse, seinen eigenen FSV-Wimpel und seinen eigenen Aschenbecher. Die Winkel zwischen den Gegenständen in seiner Ecke waren nicht zufällig. An dieser Ordnung rührte besser keiner.
Karl May hatte sein ganzes Leben an Ort und Stelle verbracht, er wohnte im Haus wie schon sein Vater und sein Großvater im Haus gewohnt hatten. Einmal abgesehen von sonntäglichen Ausflügen, samstäglichen Heimspielbetrachtungen am Bornheimer Hang, Stunden im Garten, Krankenhausbesuchen, Einkäufen und dem alljährlichen Sommerurlaub, war Karl May ständig in seiner Wirtschaft.
Karl May war ein furchtbarer Knochen, er drosch empfindungslos das leere Stroh der schankwirtschaftlichen Spruchmeisterei. Er war rabiat, Rassist war er nicht. Er hatte zur „Förderung von ausländischen Arbeitslosen" mit seinen Rentnern eine Initiative gegründet, ich traue mich kaum, es zu sagen, die „interkulturelles Jobcoaching" anbot.
Was gab es noch? Regina Halmich, das Ozonloch, im Kinderkrankenhaus von Saporischschja fehlte es von Einweghandschuhen über Zahnbürsten bis zu Desinfektionsmitteln an allem. Chefärztin Daryna Witalijiwna Poroschenko wandte sich an Karl May, der hatte schon mal geholfen.
Die Säcke sackten in der Diele. Karl May besaß Bilder von Willi Sitte und Wolfgang Mattheuer, sie hingen neben röhrenden Hirschen.
Karl May hätte jedes Kompliment als Beleidigung aufgefasst, man hatte sich schlicht und ergreifend kein Urteil zu erlauben. Seine Rentner diskutierten den Sonntagabend mit Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl in den Tatort-Hauptrollen.