Epochale Episode
„Wo ist die Garderobe?" fragt Fleckenstein.
Eine Garderobe gibt es nicht im Gernegroß und auch keine Stühle mit Nummern. Das erklärt Maya dem großen Mann, von dem sie freilich noch nie gehört hat. Aber, was weiß Maya schon? Wenn es darauf ankommt, ist alles Desaster. Gleichwohl froh und munter. Eben ein munteres Desaster. Direktor Nasenschweiß fegt heran, da steht der große Fleckenstein beinah wie Jürgen Prochnow.
Fleckenstein demnach. Der mit dem Fassbinder damals und später mit Deichsel, aber auch kommerziell erfolgreich, weil Wedel.
August Fleckenstein ist außerdem ein Gespenst aus Nasenschweiß' Jugend, insofern ein Würzburger Gespenst. Nasenschweiß kehrt den zuvorkommenden Gastgeber heraus. Er bittet Tanja da noch einmal zu fegen, wo gerade noch traulich auf die Dielen geascht wurde.
Fleckenstein gibt Hut und Mantel bei Leonie ab. Die Gegenstände hat der Herbst schon ein bisschen rau angefasst. Merlot singt ein Bedürfnis, dass im Ernst noch nicht einmal eine Überdosis Kokain befriedigen könnte.
Leonie steht mit Hut und Mantel da, das hatten wir noch nicht. Um Tanja ganz klar zu machen, wenn sie zu bedienen hat, erklärt Nasenschweiß: „Für diesen Herrn muss das Glas her, aus dem zuletzt Robert Gernhardt trank. Tanja nimmt es aus der Vitrine, es sieht aus wie jedes andere so ziemlich. Noch einmal spülen, der Mond ist doch jede Nacht ein anderes Nashorn.
Wohin mit Hut und Mantel fragt sich Leonie in der Zwischenzeit.
Fleckenstein fährt Extremitäten aus. Über ihm jaulen Triebwerke. Frankfurt wird pausenlos überflogen. Ein Flugzeug kriegt die Kurve nicht. Kriegt sie doch. Die Maschine schraubt sich nur noch einmal in den Himmel. Als kosmischer Dübel sieht der Himmel fabelhaft aus. Der letzten Zitronenfalter gibt sich dann auch noch die Ehre.
Wie gesagt, dass Dach ist abgedeckt. Ein Sturm soll es bis zum Unfallkrankenhaus mitgenommen haben.
„Mehr Merlot", jubelt Fleckenstein.
Leonie hat den Mantel zu den Putzdingen unter dem Zwillingstiefbecken getan. Der Hut behaust die Tassen auf der Kaffeemaschine. Maya verteilt Decken an die Gäste, Tanja ist noch mal vorsichtshalber. Die Klingel zitiert Säumige auf ihre Plätze.
Fleckenstein beobachtet die Ausfahrt von landing flaps. Wie die gespreizten Flugfedern einer landenden Krähe verbreitern sie Tragflächen. Sie ziehen sich wieder zusammen, der Pilot startet durch. Das Flugzeug gewinnt heulend Höhe. Manche Passagiere können nicht an sich halten und veröffentlichen schreckliche Befürchtungen. Fleckenstein vernimmt das Geschrei im Himmel, er hört auch das Gras wachsen. Wie mit Schaufeln geschlagen, fühlt er sich. Dabei wurde Fleckenstein von Nasenschweiß nur geweckt.
„Fabelhaft", schreit Fleckenstein. Das kann sich auf die Show nicht beziehen, vor ihrem Anfang ist noch nicht alles zu Ende. Die Technikerkanzel ist noch gar nicht besetzt. Ibu steckt in einer Meinungsumfrage im Milieu des Kassenhäuschens.
„Grandios", schreit Fleckenstein. Er kann doch nur den Merlot meinen. Jetzt hat er Leonie am Wickel.
„Fräulein", schreit Fleckenstein, „sehen Sie was ich sehe."
„Nu ist aber mal gut", entgegnet Leonie tapfer.
Fleckenstein trinkt aus der Flasche. Er kreist auf einem Hocker, tätlich ausschwenkend. Rumms, das saß. Ein Hämatom in nächster Zukunft. Zack. Tanja räumt den Tresen bis zur Wurstablage. Was hat der Mann lange Arme. Fleckenstein entdeckt eine Dame ... in einer strikt auf Taille getrimmten Kostümjacke, in der sie wie in einem Mieder steckt, das, so will es die Raffinesse, an eine Rüstung erinnert. Mit ausgestellter Aufmerksamkeit und echter Unruhe verfolgt sie die Einstimmung. Enorm intensiv, findet Fleckenstein die Dame. Er rumpelt gleich mal hin, vorstellen muss er sich ja nicht. Sogar an der Copacabana hat ihn ein Eisfachverkäufer schon einmal mit einer lokalen Größe verwechselt. So ähnlich sieht Fleckenstein der Bedeutung an sich. Er schubst den links von der Dame vom Stuhl. Die Höflichkeit gebietet ihm zu sagen: „Das ist mein Platz. Fragen Sie das Fräulein s'il vous please."
Die Dame zupft an sich herum, dabei sitzt alles tadellos. Zur Abwechselung wendet sie sich dem rückwärtigen Publikum zu, zeitnah in ihrer Tasche wühlend. Ein Flakon ist darin ausgelaufen, das Parfüm tränkt Leder. Fleckenstein schließt die Augen. Die Atmosphäre im bis auf den letzten Stuhl bemannten Raumflug soll ihn wie eh und je gefangen nehmen. Er ist so ein Kunstgenießer.
Noch werden Instrumente gestimmt. Oder ist das schon das Konzert?
Die Flugzeuge donnern als weiter, das Gernegroß steckt in der eisernen Klammer der Konzentration. So muss sich das nach dem Krieg angefühlt haben, als man mit Kohlen ins Theater. Im Tross des Russen war auch Sibirien angekommen. Fleckenstein schreit: „Merlot." Die Leute klatschen, man scheint sich inzwischen sicher zu sein, dass die Veranstaltung angefangen hat. Folglich passt die Pause vorzüglich ins Bild. Manche vermuten den Abtritt im Kassenhäuschen, Fleckenstein schreit weiter Merlot. Die Gebildeten halten das für einen französisch gefassten Kommentar. Die Dame muss auch mal, sie nutzt die Gelegenheit, um fort zu bleiben. Dabei hatte man sich doch so gut verstanden.
So wie Fleckenstein im totalen Dschumm der zweiten Halbzeit es sieht, hat das Gernegroß nie ausgesehen. Die gewölbte Decke mit den Segeln, die verschachtelten Tribünen, schwebenden Treppen und Brücken, die versetzten Wände und Balustraden: gibt es nicht an Ort und Stelle. Fleckenstein hört sich selbst schnarchen, so dolle kann die Musik nicht sein.
„Willste noch Merlot?" fragt Nasenschweiß. Er sitzt anstatt der Dame von vorhin da neben Fleckenstein. Ist kurz vor Mitternacht. Tanja kommt mit Merlot, für jeden ne Flasche, also drei. Wozu hat der Mensch zwei Arme? Besser noch vier deshalb. Fleckenstein legt einen Arm um Tanjas Taille. Er wiegt sie in Sicherheit, er weiß alles ganz genau. Schließlich war er bis eben in Berlin.
„Berlin kann jeder", sagt Nasenschweiß. „Frankfurt, das ist die Kunst."
Fleckenstein sagt Merlot.
Aphrodite, Apollon, Demeter, Artemis, Hera, Nike, Fortuna: Seit Fleckenstein im Gernegroß Theater macht, gehören diese himmlischen Herrschaften pappkameradschaftlich zum Ensemble. Retrospektivisch handelt es sich dabei um einen antiken Alarm vor dem Durchmarsch der Barbara. Die letzte Olympiade vor dem Sturz der Götter bittet schon einige Goten in die Arena, doch wird am vorläufigen Ende das Gotische vom Politischen ersetzt werden, in der Frage nach der politischen Relevanz von Knackwürsten und idiotischen Texten, diesen selbstverfassten Schulausflügen in der Tradition eines Fahrtenschreibers. Noch ist das Zukunftsmusik, in der Gegenwart trägt Fleckenstein einen Jipi-Japa, vielleicht als Einwand gegen den nächsten Winter. Babu trägt eine Augenklappe, nach einer Kickboxerei im Feinstaub, von der sogar im Bornheimer Landboten die Rede war. Irgendwie mit oder gegen den Sohn von Uschi Glas und diversen Berufsmusikern. Die Kaffeemaschine trägt immer noch den anderen Hut von Fleckenstein.
„Braucht wer den Scheiß?" fragt Tanja. Eine Obduktion ergab demnächst Apoplexia cerebri als Todesursache. Das wars mit Fleckenstein im Gernegroß. Er durfte keine drei Wochen nerven.
„Nach all den renommierten Häusern gab ihm das hier den Rest", resümiert Babu.