Marianne
Im Gedächtnis der Leute ist Bornheim ein Quartier, in dem das bäurische Element wie durch eine Drainage in den proletarischen Acker rann. Heute muss man diese soziale Melange mit Wohlstand und Heimlichkeit zusammen denken. Der Einheimische hat sich aus dem Erscheinungsbild seines Verbreitungsgebiets zurückgezogen. In der zugezogenen Menge auf der Berger Straße geht er unter. Die von ihm behaupteten Provinzen verbergen sich hinter Schildern aus Unauffälligkeit. Touristen könnte er viel erzählen, nur wozu. Allein auf der Eulengasse, dem großen Kopf eine kritische Miene angehängt, der Schritt schwer von der Last über den unteren Extremitäten, hält man ihn für ungesellig. Trifft man ihn aber unter seinesgleichen, entsteht ein anderes Bild.
Hier gehört Hannes zum Spiel der schwankenden Verhältnisse. Er findet sich in der Sportgaststätte im Prüfling ein. Der Wirt betreibt sein Geschäft als Herzensangelegenheit. Heinz Bieber begrüßt den Barchef der Burgschänke ebenso zuvorkommend wie herablassend. Mit Hannes‘ Arbeitgeber Kurt Wundersamen steht Bieber selbstverständlich auf vertrautem Fuß. Das Gefälle manifestiert sich im Detail. Indem Bieber Hannes ein vorgezapftes Bier vorsetzt, spuckt er ihm gewissermaßen vor die Füße, ohne sich indes die geringste Blöße zu geben. Sein Wohl bekomm’s ist reiner Hohn. Hannes zeigt sich von seiner buddhistischen Seite. Er stellt den Ellenbogen auf die Theke, gibt das Kinn an die Hände, ewig könnte er so verweilen. Seit Marianne vor zwei Tagen bei einer nächtlichen Begehung der Burg-Kelter auf einen halbherzigen Annäherungsversuch mit unverhofftem Entgegenkommen reagierte, wähnt er sie im Besitz seiner „Buschseele“. Wir verweisen an dieser Stelle auf Lucien Lévy-Bruhl, der mit participation mystique einen Zustand beschreibt, in dem der ‚Primitive‘ eine Zweitseele außerhalb seiner selbst in der organischen Welt vermutet, wenn auch nicht unbedingt in einem anderen Menschen.
In der Kelter roch es nach Maische und Herbst. Nach moderndem Holz und Teer. Die von einem Weltkrieg-II.-U-Bootmotor angetriebene Apfelpresse erschien in diesem Augenblick wie eine Requisite. Da gab es einen ikonografischen Moment, als sich Marianne - wie ferngesteuert - vor dem antiken Metallskelett nach der Decke streckte. Das war ein Theatermoment und eher noch ein Filmzitat. Türme aus Kanistern, Fässern und Steigen wirkten als Kulisse neben (an Haken hängenden) Ketten, Schläuchen, Jagdsachen und undefinierbarem Krempel voller Spuren von verschleißendem Gebrauch.
Marianne ermutigte Hannes, aus sich herauszugehen; zweifellos war es seine Unsicherheit, die dem Treiben ein Ende bereitete. Hannes folgte der Schweißspur ihrer Empfindungen. Er witterte einen Hauch von Enttäuschung. Manifester war das Erstaunen über seine Zurückhaltung.
Hannes schüttelt die Erinnerung ab. Er wird das Gefühl nicht los, etwas verpasst zu haben, dass sich nicht nachholen lässt. Marianne war ihm mit einer Unbefangenheit begegnet, die ihm jetzt noch unirdisch oder zumindest uferlos erscheint.