„Geduld ist die höfliche Cousine des Verzichts.“ Grégoire Delacourt
Überflüssige Notwendigkeit
„Der überflüssige Mensch“ ist eine russische Spielfigur. Er fällt ins Fach des lamentierenden Selbstmörders. Beispielhaft ist ein von der Provinz verfluchter Lehrer. Auf dem Theater reißt sich der überflüssige Mensch das Hemd auf, nachdem er seine Familie und den Hof ins Unglück gestoßen hat. Nun muss er möchten.
Kabarettdirektor Norbert Nasenschweiß zieht komplette Kontinente auf die Waage seiner Betrachtungen des „überflüssigen Menschen“. Er unterstellt seine Überlegungen einem Stalin-Satz: „Kein Mensch, kein Problem.“
Er dringt zum Kern der Spätmoderne vor. Zum vollwertigen Bürger befördere jedweden das Eigentum. Kein Eigentum bedeute Ausschluss und Ausschuss.
Kurz gesagt, der ewige Mieter und frei drehende Premium-Nutznießer von allem, was die Wundersamen-Burg zu bieten hat, ist schon wieder blau an einem strahlend blauen Nachmittag. Marianne vermeidet den direkten Widerspruch. Das hier ist sowieso nur eine überflüssige Notwendigkeit für ihr Regiedebüt. Sie inspiziert das Bühnenbild. Im Zentrum steht eine Vorrichtung für den Alltag ohne Wasser, das aus Hähnen fließt. Marianne hört den scheppernden Stundenschlag einer Standuhr. Das Waschgeschirr stammt aus einem Haushalt der vorletzten Jahrhundertwende. Die Standuhr wirkt wie ein Antikmarkt-Schnapp. Solche Märkte finden samstags auf den Parkplätzen von Einkaufszentren statt, die an Ortsausgängen in der Landschaft stehen.
Marianne bittet Leonie um einen Kaffee, während sie die Manöver studiert, mit denen Nasenschweiß ihr körperlich nahezukommen versucht. Er hatte mal etwas mit ihrer Mutter, vermutlich affiziert ihn Mariannes Ähnlichkeit mit ihr auf eine labyrinthische Weise. Etwas Naheliegendes und Unmittelbares wäre ohnehin ausgeschlossen beim Gründer des Gernegroß, einer „Kleinkunstbühne mit hessenweiter Ausstrahlung“, wie Jamal Tuschick in der Frankfurter Rundschau gewohnt vollmundig verkündete.
Die verblasste Intimität befremdet Marianne nicht nur. Da ist noch eine Kleinigkeit. Sie hat Platz auf einer sezierenden Messerspitze. Die Miniempfindung lässt sich nicht mit dem schweren, schwitzenden Mann in Verbindung bringen, der als „Schrittmacher der Frankfurter Kultur gehandelt wird und im Nordend zu den Kiez-Granden zählt“ (Jamal Tuschick). Nasenschweiß beherrscht die Kunst des schmauchfreien Übergriffs. Marianne lässt ihn auflaufen. Sie wendet sich Leonie zu, die unnötig laut an der Kaffeemaschine hantiert. Die unausgesprochene Frauensolidarität wirkt sich atmosphärisch so aus, dass Nasenschweiß den Abstand zu Marianne vergrößert. Das gebietet ihm seine Gerissenheit.
In diesem Augenblick kreuzt Hannes auf. Sein Auftritt löst bei Marianne eine unerwartete Reaktion in ihrem Lustzentrum aus. Es gibt sie in einigen Ausführungen. An ihrer aktuellen Version erkennt sie, dass sie sich von Hannes etwas verspricht, das außerhalb seiner Erwartungen liegt.