Anleitung zum falschen Verstehen
„Die für die Steinzeit optimierten Anteile unseres Gehirns steigen bei Stress, Gefahr und Angst quasi unaufgefordert auf den Fahrersitz und übernehmen das Steuer.“ Maren Urner
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„Das Theater muss wieder erreichen, dass sich jeder Zuschauer so gut unterhält, wie er es in einem mittleren amerikanischen Film tut.“ Bertolt Brecht
Sie wiederholen sich, im Frühstadium ihrer Routinen, jeder Tag beginnt mit sub, „Frankfurts erstem schwulen Frühstücksradio“. Jana braucht Minderheitenfunk, um frei atmen zu können. Das geht morgens los mit Radio X-Mix auf 107.5. Alle hören hr3, Jana hört unabhängiges Stadtradio. Sie stört sich nicht an den herumlungernden Aufklärungsabsichten der Programmmacher, die auf dem Sprung ins Establishment sind und ihr Publikum bevormundend mit liebe Zielgruppe ansprechen.
Jana erzählt von ihrem Ostseestrand und seinen Suchscheinwerfern. Das Licht fiel über die Grenze. Schlugen Hunde an, waren Leute auf der Flucht. Sie schafften es nie. Jana wuchs da auf, wo andere Urlaub machen. Die gescheiterten Republikflüchtlinge füllen eine Leerstelle in Janas Erzählung. Im Sommer schliefen Touristen in ihrem Kinderzimmer, sie frühstückten im Wohnzimmer. Zu Janas Verwandten zählen Fischer, ein Strandkorbverleiher und ein mit amtlich beglaubigtem Dachschaden akkreditierter Friedhofsgärtner, der außerdem die Kurtaxe eintreibt. Der Onkel knackt Kronkorken mit den Zähnen. Jana lehrte er das Rauchen (von allem, was qualmt) und Trinken, sowie Knobeln und noch einiges. Unbeholfen-unsittliche Annäherungen des ledig gebliebenen, euphemistisch als eingefleischter Junggeselle firmierenden, praktischerweise auf dem Friedhof hausenden Angehörigen werden narrativ durchgewunken. Jassir versteht die Nonchalance nicht. Er stellt sich den alten Stinker als Janas Verehrer wie das Fleisch gewordene Grauen vor. Aber so erzählt Jana das nicht. Sie hat zwei abgeschlossene Ausbildungen. Darauf kommt auch keiner, der sie bloß als putzmuntere Servicekraft kennt. Jana trägt eine Zorro-Maske der guten Laune. Sie kommt mit allen klar, eckt nirgendwo an und wirkt trotzdem - wenigstens im Gegensatz zu uns klumpenden Hessen - hanseatisch unabhängig.
Im nächsten Augenblick vollzieht sich das Wunder körperlicher Anziehungskraft. Im übernächsten Augenblick nimmt Jassir eine Breitseite der Kritik mit dem kleinen Lächeln, das Leute an sich haben, die wissen, dass sie nicht gut ankommen in der Welt. Sie entschuldigen sich ständig dafür, dass die Welt es mit ihnen aushalten muss - sie es aber nicht mit ihr aufnehmen können.
Jassir steckt in der Beckmann-Rolle wie die Dattel im Speckmantel. In einem selbstherrlich-hoheitlichen Akt hat ihm Gernegroß-Direktor Norbert Nasenschweiß die Hauptrolle gegeben. Die Entscheidung entsprach einer Herabsetzung der neuen Hausregisseurin Marianne Frühauf. Einer vorsorglichen, gewissermaßen fürsorglichen Degradierung. Nasenschweiß verkörpert ein totalitäres Regime unter einem Deckmantel totaler Diversität. Ich greife vor, Marianne weiß davon nichts. Sie fühlt sich unterstützt auf einem Sockel hoher Wertschätzung. Das Abgründige und Doppelbödige der Verhältnisse vor Ort entzieht sich ihren Kenntnissen. An einem Probenvormittag sucht sie den Schulterschluss mit dem Chef, beobachtet von Eingeweihten, die ihre Ahnungslosigkeit sehr unterschiedlich deuten. Leonie möchte Marianne helfen. Der Gernegroß-Barchefin liebt die handfeste Versponnenheit der Neuen; diesen Mix aus robust und empfindsam.