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2024-11-30 08:27:39, Jamal

Biofeudalismus

Im fortgeschrittenen Herbst sedimentiert das Laub der Platanen in den Kiesschrunden des Biergartens der sagenhaften Apfelweintaverne Zur Burgschänke. Aus der Kegelbahn dröhnt vielstimmig die Selbstherrlichkeit. Marianne weiß noch nicht, dass da die Mafia der Sachverständigen allwöchentlich ihren Schwur erneuert. Die Sachverständigen rangieren als Superprädatoren an der Spitze der nordendlichen Nahrungskette. Sie regieren das Viertel. Ihrem Bestimmerblick entgeht nichts. Sie haben sich schon ein Bild von Marianne gemacht. In ihrer urzeitlichen Wahrnehmung ist „Nasenschweiß‘ jüngste Errungenschaft“ ein Leckerbissen. Sie spekulieren darüber, was Marianne unter ihren Kleidern trägt. Sie halten sich mit ihrer Hochsteckfrisur auf. Schaut man sich die Männer aus der Nähe an, erkennt man ohne weiteres, dass sechs Millionen Jahre aufrechter Gang höchstens zwei Wimpernschläge in den Dimensionen der geologischen Zeit sind. 

Eine Sterntaler-Notlandung im Neandertal, denkt Hannes. Längst hat der Barchef des Königs Marianne erspäht. Er zeigt sich aber nicht. Der zentrale Windfang steht wie ein Schildhäuschen der Burg bevor. Die Veranda rückt von ihr ab. Marianne riecht Rauch, sie sieht den königlichen Geschäftsführer - seines Zeichens Fürst der Finsternis - wie einen Scherenschnitt am Fenster des geschlossenen Sommerschalters. Es gibt noch einen Vorbau, linkisch auf der rechten Seite der Festung. Wie aus einer heimlichen Luke quellen Frauen, um zu rauchen. Sie sind miteinander so einverstanden, dass sie dies auf die gleiche Weise tun. Die linke Hand stützt den rechten Ellenbogen. Der rechte Unterarm fällt ab. Man könnte den waltenden Regisseur einen Meister des psychologischen Kinos nennt, befleißigt sich Marianne einer intelligenten Deutung.

An einem anderen Tag 

Mütter wickeln Säuglinge auf dem Gernegroß-Tresen. Sie stapeln volle Windeln neben vegetarischen Bratkartoffeln, extra ohne Speck. Marianne kommt Biofeudalismus in den Sinn. Sie schreibt das Wort gleich auf. Sie studiert Thekeninschriften. Ein Haltestellenalbum der Anarchie, denkt sie, getrieben vom Verwertungsdruck jener, die ihre Kreativität ständig unter Beweis stellen müssen. Manche Offenbarungen sind durchgestrichen wie nach einer ad-hoc-Revision.

Jassir nimmt eine Breitseite der Kritik mit dem kleinen Lächeln, das Leute an sich haben, die wissen, dass sie nicht gut ankommen in der Welt. Sie entschuldigen sich ständig dafür, dass die Welt es mit ihnen aushalten muss - sie es aber nicht mit ihr aufnehmen können. In einem hoheitlichen Akt hat Gernegroß-Direktor Nasenschweiß Jassir eine Hauptrolle gegeben. Die Entscheidung entsprach einer Herabsetzung der neuen Hausregisseurin Marianne Frühauf. Einer vorsorglichen, gewissermaßen fürsorglichen Degradierung. Nasenschweiß verkörpert ein totalitäres Regime unter dem Deckmantel totaler Diversität. Ich greife vor, Marianne weiß davon nichts. Sie fühlt sich unterstützt auf einem Sockel hoher Wertschätzung. Das Abgründige und Doppelbödige der Verhältnisse vor Ort entzieht sich ihren Kenntnissen. An einem Probenvormittag sucht sie den Schulterschluss mit dem Chef, beobachtet von Eingeweihten, die ihre Ahnungslosigkeit sehr unterschiedlich deuten. Leonie möchte Marianne helfen. Der Gernegroß-Barchefin liebt die handfeste Versponnenheit der Neuen; diesen Mix aus robust und empfindsam.