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2024-11-30 16:34:40, Jamal

„Das ist eine fein erspürte Fortsetzung mit starken Bildern, lieber Jamal, danke.“ Musenzeit  

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„Die explizite Szene liest sich wunderschön, darin atmet Mariannes Wesen.“ Musenzeit

Frankfurter Goldjunge

Nachrichten aus der Werkstatt - Ein Beispiel für eine dezente Kollaboration. Musenzeit ergänzt und verschärft. 

Was zuvor geschah - Dynamische Delinquenz

Seit drei Monaten ist Marianne Frühauf die Hausregisseurin im Kabarett Gernegroß, das gerade zum Burgtheater hochgejazzt wird. Burg deshalb, weil der Spielplatz sich in einer Burg befindet, die bis weit ins 19. Jahrhundert weit vor den Toren der Stadt Frankfurt lag. In der Wahrnehmung von Gernegroß-Gründer Norbert Nasenschweiß ist Marianne lediglich Regieassistentin. Nasenschweiß weiß alles besser. Er sieht sich bereits in der Rolle des Burgtheaterdirektors. Er ist so einnehmend wie ein nach Luft schnappendes Walross. Er stellt Marianne nach, wenn auch nicht ganz so unauffällig, wie er glaubt. Marianne hütet sich vor dem saufenden Ketteraucher. Sie fährt auf Hannes Kesselmann ab, aber das wisst ihr ja schon. Der Clou bei der Sache: die Frühaufs und die Kesselmanns haben eine gemeinsame Geschichte, die bis zu der ‚Entdeckung‘ Australiens zurückreicht. Doch will ich nicht vorgreifen. Nur so viel, Marianne wurde im australischen Perth geboren. Noch ahnt sie nichts von der uralten Verbindung ihrer Familie mit der Familie ihres Liebhabers.

Musenzeit: „Ich finde den Schwenk auf den ‚neuen Ich-Erzähler‘ sehr gelungen, der passt zum ‚Burgtheater-hochjazzen‘. Er hat Charme, das ‚närrisch-allwissende‘ Element mag ich ja eh sehr an deinem Stil... gerne mehr ‚aus seiner Sicht‘, das wirkt erfrischend!“

Alles auf Anfang

In Australien stand alles auf Anfang: seit man Admiral Arthur Phillip, einen Hessen in britischen Diensten und Verwandten der Kesselmanns, dazu bewegen konnte, Vormund für siebenhundertzweiundneunzig Verbrecher zu spielen. Phillip bestimmte Macquarie Harbour Penal Station zur Heimat für solche, die in überseeischer Gefangenschaft straffällig wurden. Man isolierte die dynamischen Delinquenten von den in der ersten australischen Kolonie New South Wales nahe Port Jackson (Sydney) Deportierten. Von 1788 bis 1793 gab es da nur Gefangene und Soldaten, abgesehen von der ursprünglichen Bevölkerung.

Reisende des 19. Jahrhunderts stellten den „Australn...“ auf die niedrigste Zivilisationsstufe. Ihnen gelangen Herabsetzungen sogar in Vergleichen mit den Herabgesetzten Afrikas. Sie dramatisierten die Erbärmlichkeit der dem Einwanderungsdruck Erliegenden und übertrieben Opferzahlen.

Musenzeit: „Sehr bewegend. Kannst du dir vorstellen, Bennelog in den Plot hineinzuschreiben? Mich hat sein Schicksal bewegt, als ich damals über die Kolonialisierung las. Siehst du in diesem Rahmen der Geschichte einen Platz für ihn, seinen Einfluss?“

Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Bennelong

Dreißigtausend Australier überlebten die britische Invasion im ersten Durchgang von 1778 bis 1805. Ihnen begegneten die Verdammten Großbritanniens. Vornehmlich waren es junge Männer aus englischen, schottischen und irischen Elendsquartieren, die Krone exportierte den Youth Bulge.

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Marianne lackiert ihre Nägel. Sie hat den Saum ihres Kleides sorgsam umgeschlagen. Sie sagt: „Aus magischen Ritualen wurden Messen und Taufen.“ Hannes badet im Strom der Worte. Marianne will, dass er sich bei ihr wohlfühlt. Ihre Berührungen verraten ihre Bedürfnisse. Ihre Zugänglichkeit erlebt Hannes als Offenbarung. Er schiebt Mariannes Haar zur Seite und versenkt sich in den Anblick ihres Nackens. Die beinah berührungslose Präsenz wirkt so unmittelbar wie ein Schnaps auf nüchternem Magen.

Marianne möchte sich entriegeln lassen, ohne die Kontrolle zu verlieren. Hannes tritt auf die Bremse. Er hat noch ein paar andere Eisen im Feuer. Ich zitiere aus einer Nachricht, die er vorhin empfing: „Du entschuldigst dich nicht noch einmal bei einem Pizza-Homie oder einer Rezeptionsassistentin für ein zu spät oder so was. Du bist ein Herr mit Schatz. Dieser Schatz bin ich. Nachts nimmst du mich. Kurz, intensiv. Du fickst mich, wenn dir danach ist. Meine Bereitschaft ist zum Glück echt. Ich bin gierig, auf Empfang gestellt.

Du bist mir heilig. Mein Arsch ist dir ergeben. Du könntest gut und gern mehr damit anfangen.“

Musenzeit: „Ich habe mir hier erlaubt, diese Nachricht sprachlich leicht zu verändern, auch wenn das jetzt nicht so ganz ‚Mariannes Sprachraum‘ ist ;-)... Das hat eine starke Wirkung, so wie es überraschend im Erzählfeld auftaucht, die Frequenz ist da eine andere. Ist das etwas, was sich noch aufklärt? Eine (Online-)Parallelwelt?“

Vorher stand da: Du entschuldigst dich nicht noch einmal bei einem Pizza-Homie oder einer Rezeptionsassistentin für ein zu spät oder so was. Du bist ein Herr mit Schatz. Der Schatz bin ich. Nachts nimmst du mich kurz und bündig. Du fickst mich, wenn dir danach ist. Meine Bereitschaft ist nichts Gemachtes zum Glück. Ich bin gierig auf Empfang gestellt.

Du bist mir heilig. Mein Arsch ist dir ergeben. Du könntest gut und gern mehr damit anfangen.“

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Hannes bespricht seine Lage mit Frankfurt. Darunter macht er es nicht. Ab und zu schaltet er den Fernseher ein, aber meistens übersetzt er die Geräusche der Stadt mit Antworten auf seine Fragen. Gref-Völsings

... ist eine in der fünften Generation familiengeführte Metzgerei in Frankfurt am Main. Sie wurde 1894 gegründet und gehört heute zur Populärkultur.“ Wikipedia

... liegt vor der Tür, da verläuft sich die Südliche Zufuhr (eine Zufahrt zum Ostbahnhof), die ihre große Zeit als erste Adresse der Galerie Fruchtig hatte.

Die Galerie Fruchtig war Frankfurts erstes Beispiel dafür, wie Kunst einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden kann und wie der Underground ...“ Kunstverein Frankfurt

Das war noch vor der Gastronomie mit der Brechstange, im Übersprung sogar noch vor der Mainbegradigung, die in der Konsequenz von Reparationsleistungen in den 1870er Jahren den französischen Staatshaushalt belastete. Uferunmittelbare Fauna kommt von daher in der Aue des Osthafens vor, botanisierbar bis zum Prallhang des alten Mainbeckens, dem Röderberg, auf dessen sandigem Kamm man früher zum Apfelwein ging. Nichts deutet mehr auf die Phalanx der Schenken hin, aber Hannes klebt am historischen Leim wie eine verliebte Fliege. Er ist ein Frankfurter Goldjunge, so ein geküsstes Kerlchen.

Keine Ahnung beschwert ihn, dass ihn mit Marianne viel mehr verbindet als mit all den Vertrauten im Dunstkreis der Wundersamen-Burg. Es gibt ein genetisches Band. Marianne und Hannes sind verwandt.  

Da begegnen sich Fremde, die miteinander verwandt sind. Ich habe eben die Formulierung ... die ‚ein gemeinsames genetisches Schicksal haben‘ gestrichen. Obwohl das Ungeheuerliches birgt. Ich hatte Gelegenheit, Martin Walser aus der Nähe zu erleben. Er hatte furiose Augenbrauen und so eine überbordende Stattlichkeit, die sich aber in die Melancholie verkrümelte, sobald man ihn angriff. Fühlte er sich behaglich, dann bewegten sich seine Lippen so süffig in Richtung süffisant. Aber das trifft es nicht. Mein Wort ist schlotzen, das Schwäbische schlotzen. Und die gleiche mimische Signatur, dieses trockene Schlotzen, zeigt sein unehelicher Sohn Jakob Augstein. Aufgewachsen in einer ganz anderen Welt, determiniert ihn die biologische Herkunft und definiert ihn als Walser.  

Doch gemach. Lassen Sie es uns langsam angehen.

Im Präsens der Vergangenheit - Ein Sträfling macht an der australischen Ostküste, nahe der Bucht, die 1770 James Cooks Endeavour aufnahm und seitdem Botany Bay heißt, einen paläontologischen Fund. Der alte Kesselmann, seines Zeichens Frankfurter Agent, Journalist, Schriftsteller und Abenteurer, ist sofort zur Stelle. Seinen Lesern verkauft er den Fund als fast vollständiges Skelett eines reißzahnbewehrten Beutelsäugers mit dem Aussehen einer Säbelzahnkatze. Seit Thylacoleo carnifex hat es in Australien nichts in der Art (von Sparassodonta) gegeben, doch weiß das noch kein Mensch. Kesselmann dichtet eine steinzeitliche Knochenklinge in das Ensemble: zum Beweis, dass auch der ursprünglichste Australier als tödlicher Verdränger infolge technologischen Vorsprungs wirkte. Die Erfindung eines im Pleistozän auftretenden Raubbeutlers überzeugt wegen der vielen Koalas und Kängurus. 

Die Fossilien bleiben lange unbestimmt, zuerst im Haus von Philip Gidley King, dem dritten Gouverneur von New South Wales. Er unterhält eine in die Vaterschaft führende Beziehung zu einem weiblichen Sträfling, 1827 landet der Fund auf dem Dachboden des soeben in Sydney eröffneten Australian Museum. Später ordnet man ihn dem Riesenbeutler Diprotodon zu, der an einem Megafauna-Massensterben teilnahm.