Musenzeit „Sehr schön, ok! Da klingen schon so viele Melodien an, die sich ausbreitet ins Feld, fantastisch! Ich fühle mich richtiggehend beschenkt, wie auf einem ‚Fest der Möglichkeiten' beim Lesen deiner ozeanisch angehauchten Geschichte. Einige kleine Anmerkungen ..., ich habe da nur die ‚empfangene Nachricht' sprachlich etwas modifiziert, da ich zuvor die englische Version auf wattpatt gelesen hatte und mich an den ‚vibe‘ noch erinnerte. Vielleicht war das jetzt unpassend, aber mir war gerade so danach.“
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Jamal: „Ich weiß nicht warum, aber explizite Feinzeichnungen heben den Text. Das ist bürgerliche Souveränität: alle Facetten in einen guten Rahmen setzen zu können. Außerdem entspricht es einem Hoheitsakt, Dinge aussprechen zu dürfen. Am unteren Ende der Fahnenstange erreicht der Mangel auch die Sprache. In dem Recht, Sexualität zur Sprache zu bringen, stecken ins Bürgerliche übergegangene höfische Privilegien. Man verschafft sich Vergnügen, bleibt aber beim Sie.“
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Musenzeit: „Lieber Jamal, ja, die Feinzeichnungen sind ein unmittelbares Beleben der Sinne. Ich finde das Thema sehr spannend, was sich da tut. Ich habe so die Vermutung, dass Textinhalt nicht gut aufgenommen wird, wenn ‚die Grundstimmung‘ nicht stimmt. Zu dieser Aufnahmebereitschaft tragen diese expliziten Szenen bei, eine Einladung, sich auch mental für neue Sichtweisen zu öffnen - zumindest aus meiner Wahrnehmung... Zu deiner Anmerkung des ‚Hoheitsakts‘ der Aussprache kam mir einiges in den Sinn: Es wird ja eigentlich nicht zu wenig über Sex geredet, auch die Bildsprache ist sehr explizit geworden. Die Dauersexualisierung im Sprachlichen soll motivieren, zu was auch immer. Ich stelle mir das jetzt mal bildlich vor in der Natur, dieses - sogar im wahrsten Sinne - ständig hochgepeitschte Dasein... was macht das mit dem Körper, den Sinnen? Ich spreche da natürlich vielleicht sehr speziell aus der Sicht einer Frau... Der Mangel an Sprache erzeugt auch ein Mangel an Sinnlichkeitserleben beim Lesen über Sexualität. Es hat sich eine sexuelle Fast-Food-Küche ohne Gehalt ausgebreitet, die sich an einseitig-patriarchalen Normen orientiert. Dazu gehören für mich die KI-Avatare und deren sprachliche und visuelle Verzerrungen und Verstümmelungen der Wahrnehmung. Ich reagiere da allergisch in so einem Umfeld, das wirkt wie eine Folter auf mich. Sprachlich ausgeführte, despektierliche Ohrfeigen an ein holistisches Körperdasein. Zu deinem Alter und der Begleitmusik: Das klingt kryptisch... wir kennen uns ja noch nicht persönlich, daher mag ich nicht zu indiskret mit meiner Nachfrage sein, was du damit meinst. Die sprachliche Begleitmusik in unserer Kollaboration klingt für mich jedenfalls reich instrumentiert, schwungvoll-sinnlich und melodisch einnehmend. Ich genieße das.“
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Musenzeit: „Ach, aber das wollte ich dir heute aber unbedingt auch noch schreiben, vor lauter Nachspüren war ich vorhin abgelenkt: Die Goldsucher-Episode im Anschluss an ihre innige Begegnung ist eine Wucht, da höre ich diesen herrlich ‚närrischen Erzähler‘ im Background. Ich mag diese Art sehr, wie du da Historisches erzählst!“
Heiliger Aschenbecher
Die australische Theaterfrau Marianne Frühauf debütiert als Regisseurin in einem kleinen Frankfurter Burgtheater, das einst von Norbert Nasenschweiß als Kabarett Gernegroß gegründet wurde. In den fremden, oft auch befremdlichen Verhältnissen fühlt sie sich wie eine Ethnologin im Feld. Sie studiert die Gepflogenheiten eines seltsamen Stammes. Dessen Angehörige halten die Burg für den Nabel der Welt. Die Welt endet an den Grenzen ihres Territoriums - dem Nordend. Von Kindesbeinen sich nicht wenige inkorporiert in Vereinigungen mit so seltsamen Namen wie Nordend Defender oder Manish Boys. Die Hardcore Fraktion versammelt sich Nacht für Nacht am Stammtisch der Burgschänke. Da beten sie das galaktische Taschentuch an. Für Unwissende ist das bloß ein fadenscheiniges Geschirrhandtuch. Doch verbindet sich damit eine Geschichte, die zurückreicht bis zu den Anfängen der Menschheit.
Vereinzelt treten die Veteranen sehr leger auf. Auch Mariannes Geliebter, der legendäre Hannes Kesselmann, hat schon im Bademantel seine Nachtasyle abgeklappert. Hat man Geld, werden einem die Erscheinungen des Wahnsinns als Grillen ausgelegt. Hannes zeigt Marianne einen Bund, an dem kein Schlüssel hängt, dessen Schloss noch existiert. Mit den Schlössern sind viele Türen verschwunden, aber die Häuser stehen noch. Hannes erzählt die Geschichte vom heiligen Burgaschenbecher. Angeblich besteht das Ding aus dem Schädelsplitter eines Triceratops, den König Kurt, dem ich der Burg alles gehört, noch lebend sah, kurz vor dem Einschlag von Yucatán.
Kurz gesagt, Hannes spinnt Marianne so listig wie fleißig ein. Er will sie auf die Insignien der Burg einschwören und sie empfänglich machen für die Mysterien vor Ort. Sie spürt seine Erregung an ihrem Po, als er ihr von hinten ins Ohr flüstert: „Komm, beschenken wir uns.“ Seine Stimme rauscht bis in Mariannes Zehenspitzen. Sie bebt ihm entgegen. Sanft taucht er in ihre Lustquelle, die sich ihm in atavistischem Einverständnis fließend öffnet.
Um in einer anderen Zeit weiterzumachen - Im Frühjahr 1808 klaubt ein landwirtschaftlich genutzter Sträfling im Landkreis von Sydney einen Klumpen auf. Er staunt einen Augenblick zu lang, schon steht ihm der Aufseher bei. Im Sommer übernimmt William Paterson den Posten des Gouverneurs von New South Wales. Er folgt dem kaum in Erscheinung getretenen Foveaux, dessen Vorgänger, der glücklose, von korrupten Offizieren gemobbte Bill Bligh, auf sein königliches Mandat pocht. Bligh ist eine nautische Ausnahmeerscheinung. Seine kartografische Genauigkeit hilft Seefahrern noch im 20. Jahrhundert. Trotzdem könnte sein Ruf kaum schlechter sein. Paterson lässt Bligh auf eine dubiose Anklage hin festsetzen und löst so einen Skandal aus, der ihn nicht schert. Der Schotte geht in der Botanik auf. Er bestimmt Pflanzen im Busch von Down Under. Die Goldfundkunde erreicht ihn als Letzten. Da er die Entvölkerung der Kolonie fürchtet, ordnet Paterson Stillschweigen an.
Doch längst sind alle auf den Beinen. Der Goldrausch leistet der Besiedlung Australiens unerwartet Vorschub. An Ufern schießender Bachläufe stauen sich plötzlich Hunderte. In den Bächen stehen Goldwäscher Spalier. Missmutig mustern sie die Nachkommenden. Kein Mensch kriegt mehr als drei Quadratmeter Hoffnung. Dafür zahlt er der Regierung zwanzig Schilling. Leute schließen sich in Claim-Genossenschaften zusammen, in Sydney gibt es keinen freien Mann mehr, dem man eine Arbeit auftragen kann.
Der Auflauf in einem Tal, das gestern noch von jedem übergangen worden wäre, verlangt nicht mehr Sittlichkeit, als unter freiem Himmel zu kriegen ist. Das Schwemmland birgt Ton, an dem Gold klebt. Das Gold lässt sich einfach abklauben und einsacken. Gold steckt in Quarz, es sandet auf dem Bachboden. Den Wert des Quarzes kümmert keinen. Keinen kümmern Profite aus dem Abbau von Granit, Kalkstein, Marmor, Kohle, Kaolin, Kupfer, Blei. Egal ist, was Salzgewinnung und Fischfang bringen. Man übersieht Felder voller Meteoritenschrapnelle. Das Goldfieber greift die Hirne an. Es schafft einen stupiden Rhythmus des Lebens.
Das Fieber bringt die Zivilisation zum Erliegen. Die neuen Anschauungen sind steinalt. Wo man früher jemandem erst auf den Zahn fühlte, bricht man ihm jetzt gleich den Kiefer. Dem freien Lauf der Gefühle unterwirft man alles. Das setzt Tote auf die Tagesordnung. Schon mischen sich Deportierte unter freie Einwanderer. Sie konnten sich leicht losreißen, da ihre Wächter in Mannschaftsstärke dem Gold nachjagen.
Desertierte treffen Deportierte. Nun stiftet das Glück den Rang und bestimmt, wie viel Achtung einer fordern kann. Wer Gold hat, gilt mehr als ein Offizier ohne Gold. Interessant werden solche, die geheime „Goldplätze“ kennen. Delinquenz erhöht die Glaubwürdigkeit. Ehemalige Sträflinge, die als Hirten Bewegungsfreiheit genossen, oder Umgang mit solchen Wandervögeln hatten, verkaufen den Knasttratsch und das Rumgerede vergangener Tage als totsicheren Tipp an Meistbietende. Sie führen Ahnungslose an die Enden der Welt und in den Tod.
Enttäuschte des ersten Runs ziehen weiter. Der Wahnsinn zieht mit ihnen immer weiter in die Wildnis. Bald kommt es dahin, dass Leute an beliebigen Stellen zu graben beginnen. Chinesen reaktivieren von Europäern aufgegebene Fundorte. Townships entstehen. Dem Ex-Sträfling Josh Singer zahlt man hundertvierzigtausend Pfund Sterling für einen Flecken in unerforschten Weiten, der ihn dreiundsiebzig Pfund gekostet hat. Singer deutet den schlagartigen Reichtum als Auftrag Gottes, eine eigene Kirche zu gründen - The Singer Church.