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2024-12-04 18:30:18, Jamal

Restbürgerlichkeit

Ein Nachmittag im Gernegroß

Mit den besten Gründen erwartet Barchefin Leonie im Gernegroß alt werden zu dürfen, etwas Besseres gibt es nicht für die kinderlos geschiedene Sozialpädagogin. Für Abgründe ist alles zu mickrig. Die Pseudologia phantastica der Eingeschworenen und Ausgeflippten verfehlt die Koordinaten der Restbürgerlichkeit. Leonie repräsentiert die Restbürgerlichkeit vor Ort. Sie ist  Anführerin der Normalo-Fraktion. Frankfurt ist zu teuer für Experimente. Deshalb die Schwänke und Klamotten auf der Bühne, und diese entlastende Sozialkritik als heitere Muse für Reisende, die den letzten Zug verpasst haben und aus ihren Wartehallen nicht mehr herauskommen werden.

Hauptsache Arbeit! Das gilt nicht in Frankfurt. Arm aber ehrlich, auch nicht.

Babu will wissen, wie Marianne den Einbürgerungstest für das Nordend geschafft hat. Er hat sich mit Schnaps und Tabak imprägniert. Auch frisch geduscht stinkt er. Das bemerkt Marianne am Rand ihres Ekels. Sie ist die Neue im Spiel. Sie soll Heiner Müllers ‚Auftrag‘ auf die Bühne bringen und so dem Gernegroß ein neues Profil geben. Sie sondiert, peilt die Lage. Neben ihr am Tresen erzählt Tine von einem Einkauf bei „Bio-Basic Instinct“. Sie feiert das Fest der Zugehörigkeit im Engtanz mit Babu. Britta, auch sie ein „Geschöpf der Gegend“, fühlt sich ausgeschlossen und verlangt deshalb das komplizierteste Procedere der Milchkaffeezubereitung. Das heißt, den Kaffee extra im protzigsten Milchkännchen (einem mitgegangenen Einzelstück) und in der kleinen Wanne die Milch zweistufig geschäumt. Es gibt sagenhaft schlechte Zuckerstreuer, fragt man Britta. Auch die Löffelfrage verkompliziert sich unter Umständen.

„Berlin kann jeder“, heißt es im hessischen Volksmund. „Frankfurt, das ist die Kunst.“

Theaterchef Nasenschweiß verkündet: „Abwechslung führt unmittelbar in die Pädophilie.“

„Pädowas?“ schreit Babu. Abiturwörter verärgern ihn.

„Welches Grab schützt mich vor deiner Jugend?“ fragt Heiner Müller. Er weiß: „Theater hat die Aufgabe, die Toten zu begraben.“ Brecht wollte ein „Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen“. Mit den Skandalen sollten „die Ideologien zerlegt“ werden.  

Liebhaber und Lehrmeister - An einem anderen Tag

Der Boden der Tatsachen als Tanzboden der Möglichkeiten - das Ostend ist ein Freilichtmuseum des Industriezeitalters. Bestand und Verdrängung, Molle und Korn, Trotz und Transit - im Augenblick scheint die Sonne wie ein Spielzeug im Gras zu liegen.

„Was geht mich die Welt an. Ich esse ihre Bilder“, sagt Heiner Müller. Er ist Mariannes Lehrmeister. Hannes Kesselmann ist ihr Liebhaber. Senecas Stücke wurden für szenische Lesungen geschrieben. Das hat die elisabethanische Renaissance nicht gewusst. Aus diesem Missverständnis ergab sich Shakespeare. Das ist die HM-Hochform: die Verschränkung der Weltgeschichte mit Poesie. Er ist ein Theater-Muhammad Ali, die Müller-Shuffle kreuzt Seneca mit Shakespeare. In der nächsten Drehung taucht die Pest als Motor der Neuzeit bei Müller aus den Giftindustrien der Kloake als Kanalisationsproblem auf.