MenuMENU

zurück

2024-12-06 08:30:28, Jamal

Aus Mariannes Aufzeichnungen

„Wenn Sie reich sind, dann können Sie Geld zum Fenster rauswerfen, es kommt durch die Tür wieder rein.“

Ich schnappte den Satz auf dem Weg in den Frankfurter Hof auf. Juri erwartete mich. Ich vergaß sofort jeden Theaterschwur, den ich je geleistet hatte.

Juri rauchte Zigarre, so wie sein Idol. Er inszenierte am Schauspiel. „Allein gelassen schien er schmal wie ein Kind in der Fremde“, sagt Strittmatter über Brecht. Das dachte ich von Juri in Frankfurt. Er hatte Heiner Müller noch persönlich gekannt. War er blau, behauptete er, mit dem größten deutschen Dramatiker befreundet gewesen zu sein. Er schenkte mir „Drachenblut“. Die Novelle war zuerst unter dem Titel „Der fremde Freund“ erschienen; Juri wäre enttäuscht gewesen, wenn ich das Buch nicht schon gekannt hätte. 

Siehe hierzu: Die Konvergenztheorie erwartete eine Annäherung der beiden deutschen Staaten als einer Angelegenheit bürgerlichen Behagens. (Auch als offizielle Reaktion auf bürgerliches Unbehagen.) Sie ging von Konsumgemeinschaften aus. Abstimmungen in der Warenwelt sollten die ideologische Differenz bis zur niedrigen Schwelle mindern. Christoph Heins „Fremder Freund“ zeigt die DDR als fortgeschrittene, zugleich lethargische Gesellschaft. Die Protagonisten sind ganz privat, der staatliche Einfluss ist ein Rinnsal. Hein weist seinen Helden Merkmale der Vereinsamung nach, er spielt mit Dekadenzmotiven. Die Trennung von Staat und Person ist vollzogen, das beschreibt ein Scheitern. Wollte die DDR doch die Aufhebung dieser Trennung, um auf der Ideallinie vom Engagement jedes einzelnen zu profitieren – in einer sozialistischen Volksgemeinschaft.
Man fotografiert Wolken, passiert in Nouvelle Vague-Landschaften gesetzte Ruinen auf Transitstrecken des melancholischen Eigensinns. Der Staat stört allenfalls an Peripherien der persönlichen Entwürfe. Gegebenenfalls entscheidet man sich gegen das Kollektiv, das doch über dem „schädlichen“ Individualismus stehen soll. Mit dem Abstand von Jahrzehnten ist das Erstaunliche am „Fremden Freund“ die nichts Erstaunliches zugebende Manier, in der Hein ganz zu Anfang der 1980er Jahre von dem Ungeheuer Entfremdung und der Ungeheuerlichkeit des kapitalistischen Einbruchs in ein sozialistisches Revier erzählt.

Der Kommunarden Traum vom Ich zum Wir

Hein stellt ein Desaster fest. Heiner Müller bestätigt Heins Feststellung. In einem Gespräch mit Sylvère Lotringer sagt er 1981: „Für junge Paare (in der DDR) kommt zuerst das Kind, danach das Auto. Die Leute müssen acht Jahre auf ein Auto warten. Das ist ihr Bild von der Zukunft.“
Lotringer: „Die sozialistische Utopie, verheiratet mit westlichem Konsum?“
Müller: „Das ist die gegenwärtige Aussicht – und eins meiner Schreibprobleme. Ich habe kein Interesse an dieser Art von Leben, und ich kann mich nicht dazu bringen, darüber zu schreiben.“

Auf den Skalen der Fremdheit ist das eine Äußerung im roten Bereich. Die neue Gesellschaft - „der Kommunarden Traum vom Ich zum Wir“ - wird nicht gelingen. Das heißt in der Konsequenz: „Meine Hauptexistenz ist im Schreiben. Das andere geschieht mechanisch.“
Bei Botho Strauß liest sich das so: „Ich bin jetzt definitiv ins Heft umgezogen.“ Strauß ist der andere Theaterautor. HM nennt ihn einen Fotografen.
Die Ideen verschwinden auf den Bühnen in Kunstfallen. Man findet bei HM immer gründliche Begründungen für das Scheitern einer Inszenierung oder eines Staates. Erklärt er Erfolg, dann spürt man eine Tendenz zur Flüchtigkeit. Strauß fotografiert, Besson ist plebejisch. Die BRD macht es auch nicht mehr lange. Ohne kommunistische Utopie ist eh alles nichts. Das erkennt man schon an den falschen Zigarrenschneidern in westdeutschen Hotels. Besson ist außerdem manieriert, manieriert aus Feigheit.