MenuMENU

zurück

2024-12-06 17:24:17, Jamal

„Das Wesentliche im Universum ist nicht das Organische, sondern die Information.“ Heiner Müller

*

„Optimismus ist nur ein Mangel an Information.“ Heiner Müller

*

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wo das Wort Lakonie herkommt? Man führt es auf den peloponnesischen Landstrich Lakonien zurück. Da drohte einst Philipp II. von Makedonien:

„Wenn ich in Lakonien einfalle, werde ich euch zu Flüchtlingen machen.“

Die Spartaner glänzten mit der knappsten Entgegnung:

„Wenn.“

Während in den 1980er Jahren die Mär vom „Ende der Geschichte“ die Runde machte, Hans-Magnus Enzensberger die „Aporie der Avantgarde“ als weltweite Erschöpfung des Geistes beschwor und andere Geistesfürsten in Ost und West von der Unverrückbarkeit der Blöcke schwafelten, begriffen nur einige Finanzexperten - und Heiner Müller, der den Konsumismus (statt Kommunismus) der Ostdeutschen zum Teufel wünschte, was die Stunde geschlagen hatte.

Im Präsens der Exegese

Heiner Müller verbindet den Mercedesstern über Berlin mit dem herausgeschlagenen Zahngold. Die Geschichte findet statt „zwischen Gewalt und Vergessen“. „Heimat ist, wo die Rechnungen ankommen.“

*

Aus der aktuellen Debatte:

Jamal: „Liebe Musenzeit, seit du dabei bist, schwingt der Text.“

Lieber Jamal, „dass du das so wahrnimmst, wirkt auf mich sehr berührend. Ehrlich gesagt hatte ich schon etwas Sorge, dass deine Leserschaft das irritiert, wenn ich so explizit mitmache. Ich bin daher auch eher noch vorsichtig in meinen Anmerkungen geblieben, besonders auf story1. Ich fühle die Schwingung auch sehr stark und reagiere schnell in meinen intuitiven Reaktionen darauf, auch wenn ich nicht alles davon in Worte fasse. Auch auf deine Fotos übrigens... Das Kaskadische ist wie abenteuerliches Weltreisen, dabei kann man ja nie genug entdecken. Deine Sprache durchwandert die Länder des menschlichen Daseins so mühelos, das ist immer wieder genussvoll für mich, das lesezuerleben. Ich liebe natürlich Fließend-Bewegtes in seinen variantenreichen Ausdrucksformen, auch in deinem Text. Ich habe übrigens sehr klar von einem Drucktext geträumt letzte Nacht, der deinen Text, unseren Schreibdialog und die Kommentare von story1 enthielten.

Jamal: „Liebe Musenzeit, deinen Traum nehme ich als gutes Omen. Von mir aus brauchst du dich auch auf story1 nicht zurückhalten. Wir können offen kooperieren. Deine Beiträge machen den Text elastisch, sie hauchen ihm Leben ein und sie korrigieren mich und Hannes. Du hast die Geschichte schon an einigen Sackgassen der Tristesse vorbeimanövriert. Ich verstehe, wie das vor sich geht. Du willst für Marianne nur das Beste, während ich alles Mögliche Formulierungen zu opfern bereit bin. Ich will für den Text das Beste. In deinem Einsatz wird Marianne lebendig, während Hannes das Totholz meines Talents hin und her schleppt. Hannes wird sich weiter nach der Burgdecke strecken. Da kriegt er alles, was er braucht. Und so will er es haben. Er ist der Angler an einem fischreichen Strom, auch wenn Marianne diese Einsicht kränken muss. Wir sagen es ihr einfach nicht.

Marianne und Hannes besuchen eine Mitternachtslesung in einer verlassenen Schleifmaschinenfabrik. Die Veranstalter spekulieren auf epochale Showeffekte. Die Sensationen der Ein- und Ausgänge einer alten Montagehalle. Marianne und Hannes laufen über Industrieparkett aus ölgetränktem Stirnholz. Wie zischende Diener stehen Heizpilze Spalier, während Michel Houellebecqs „Ausweitung des Kampfgebietes“ vorgelesen wird. Ab und zu singt eine Sopranistin Brecht-Lieder.

Bertolt Brecht sagt: „Die Schönheit der Formulierung einer barbarischen Tatsache birgt Hoffnung auf Utopie.“

Marianne verliert sich im Anblick der Träger, monumentaler Muttern und bizarren Nietenornamenten. Wie schön der Lack abblättert. Tische sind mit zerschnittenen Brautkleidern drapiert. Marianne und Hannes ziehen sich an den äußersten Rand zurück. Der Bereich ist in Dunkelheit getaucht. Niemand kümmert sich um sie. Es ist ein günstiger Moment.

Sakral in der Säkularisierung - Weiter aus Mariannes Aufzeichnungen

Ein Mann schiebt einen leeren Kinderwagen vor die Imponiermalerei des Kalten Krieges. Außer mir scheint niemand die Sinnlosigkeit der Konstellation, wenigstens gemessen an den regulären Erwartungen, zu irritieren. Das Fahrzeug könnte Requisit einer Inszenierung sein. Ich verfolge die Manöver des seltsamen Besuchers. Enttäuscht ihn, dass seine Merkwürdigkeit fast alle Aufmerksamkeitsziele verfehlt? Möchte er dem Publikum eine Reaktion abringen?

Der sowjetisch-sozialistische Realismus ist Ikonenmalerei und Stalinverehrung weit über dessen Verdammung hinaus. Märchenhaft sind die Prachtschinken. Sie sind Erzählungen im Geist der Fürstenverehrung. Die amerikanischen Gegenstücke geben ihre Fadenscheinigkeit als Marktprodukte sofort zu. Sie entsprechen unternehmerischen Leistungen, während die UDSSR-Kunst sakral in der totalen Säkularisierung bleibt.

Ich beobachte den Simulanten eines Vaters vor einer familiären Konstellation vor Jurij Korolevs 1982 entstandenem Kolossal „Kosmonauten“. Ganz offensichtlich vollzog der Künstler die Apotheose an seinem Personal. Das waren furchtlose Männer in Windeln.

Die Blöcke vereisten in der kalten Konkurrenz. Ihre Gladiatoren wähnten sich so oder so im Abwehrkampf gegen Ungeheuer aus dem Reich des Bösen. Im Überflügelungseifer reizten sie die Grenzen ihrer Spannkraft aus.

*

Brechts „Trommeln in der Nacht“ - Eine irreguläre Inszenierung in einem von der Straßenmeisterei als Werkstatt genutzten Pfeiler der Honsellbrücke. Eine Off-Off-Bühne ohne die üblichen Kulturzeichen. Jemand kehrt aus dem I. Weltkrieg heim, sein Trauma, das Drama des Maschinenkriegs, spielt keine Rolle und interessiert nicht. Das muss für die Soldaten Science-Fiction gewesen sein: die Materialschlachten und Gasmasken und neuen Geistesstörungen. Sie kamen aus einer Welt kaiserlicher Kavallerie und fußkranker Infanterie in ein technisches, wie von Ufo-Besatzungen angerichtetes Inferno, das in Zeitgenossenschaft gar nicht zu begreifen war. Die Wahnsinnigen hielt man für Simulanten und den Krieg noch immer für ein schickes Mittel der Politik. - Für einen Hammer, der aus Gründen der Völker- und Seelenhygiene gelegentlich aus dem Kabinett zu holen war. Was blieb einem übrig? Man wäre als Kaiser auch lieber mit dem Cousin aus dem englischen Königshaus zum Segeln gefahren, anstatt Kanonenboote versenken zu spielen in echt.

Ich staune, wie skeptisch der junge Brecht bereits ist. Er traut den Verelendeten nicht viel und dem abstürzenden Kleinbürgertum gerade einmal noch weniger zu. Wo er in seinem Leichtsinn nicht weiter weiß, schmeißt er die Klamotte wie eine Drehorgel an. Dann ist Zirkus in der Kneipe - und es erfüllt sich ein Wunsch von Heiner Müller, der Brecht gern in einer Peepshow sehen wollte.