Karate - Aus Hannes‘ Aufzeichnungen
“No matter how you attack me I will keep sticking on you.” Sifu Fung Chun
Tetsuhiro Hokama erzählt in einem Youtube-Video von seiner Kindheit, erst auf Taiwan, wo sein Vater als japanischer Soldat stationiert war, und dann auf Okinawa, der Familieninsel aus Tetsuhiros Perspektive. Japan litt nicht allein unter der (von dem nuklearen Inferno gesteigerten) Kriegsniederlage.
Man mag die militärische Sonderbehandlung als kollektive Verbannung in die Unterwelt erlebt haben. Kurz untergrub der Ehrverlust den Wiederaufbauehrgeiz auch auf der Ebene der Staatsraison. Die materielle Not mündete in einer Depression, die einen erheblichen Teil der Bevölkerung an die traditionell Ausgeschlossenen heranrücken ließ.
Ausgestoßen
Japaner verloren sich aus Scham in Spielarten der Unberührbarkeit. Sie hausten in Verschlägen und kleideten sich in Lumpen. Seinen ersten Gi (Karateanzug) schneiderte Tetsuhiros Mutter aus einer amerikanischen Uniform. Die Sieger lieferten die Reisrationen; eine Absurdität, die im japanischen Volksmund den Namen Cashew Reis erhielt. Auch Milch und Brot waren Exportprodukte.
Tetsuhiro erinnert daran, dass Abfallhaufen abgeweidet wurden.
Die Katastrophe des Kriegsausgangs, die Schlacht um Okinawa aka Operation Eisberg (1. April - 30. Juni 1945) kostete hundertzwanzigtausend Menschen das Leben, änderte alle staatlichen Kurse. Das Elend weitete eine aufoktroyierte patriotische Klammer. Die einst zwanghaft eingegliederten Okinawa-Provinzler besannen sich auf ihre Spezialitäten. Sie blickten auf Formate zurück, die sie nicht mit den Hauptinseljapanern teilten. Okinawa war in einer Transition zwischen Japan und China einst kulturell souverän gewesen. Gerade strangulierte der japanische Hegemon nicht so gewaltig wie sonst die inneren Autonomiebestrebungen.
Tetsuhiros erster Meister war sein Großvater.
Mit der ihm eigenen aus einer in Jahrzehnten vorangetriebenen Karate-Kultivierung kommenden Unmittelbarkeit, die ihren Platz gleichberechtigt neben der Selbstverbergungsvirtuosität beansprucht, schildert der Großmeister seinen Werdegang vom Karateknirps in Opas Dōjō bis zum Lordsiegelbewahrer eines fabelhaften Erbes, dessen alte Namen anzuführen, Tetsuhiro nicht müde wird.
„Karate ist wie das Leben."
Das ist Tetsuhiros Standardspruch. Sein Karate (Gōjū-Ryū) verbindet harte und weiche Elemente nach dem Prinzip einer guten Ehe, so der Experte. In jeder funktionierenden, auf konkrete Belange gerichteten Kommunikation würde das Vorlastige vom Partner getrimmt. Steigt einer zu weich ein, assistiert der andere mit der nötigen Komplementärhärte.
Die Praktizierenden zeigten ihre Kunst im Theater. Man stelle sich das vor: Karate an der Berliner Volksbühne. Kein Zweifel, nächstes Jahr wird das ein Renner, und ihr habt das Wetterleuchten gesehen.
Karate schwamm im Mainstream. Das müssen goldene Zeiten gewesen sein. Man hatte sein Business, zum Beispiel einen Laden für Saiteninstrumente oder eine Schreinerei, und in einem rückwärtigen Schlauch fand ein wesentlich differenzierter und vielseitigerer Unterricht statt als wir das aus den verschulten Hauptinsel-Derivaten kennen.
Noch herrschte ein Geist der Notwendigkeit. Es wurde nicht nur repetiert. Es ging nicht allein um Nachahmungen über jede Plausibilität hinaus kodifizierter Abläufe (Kata). Vielmehr stand ein weitreichendes Verständnis der Bedeutungen von Bewegungen und Gegenständen auf der Agenda. Mich fasziniert der Variantenreichtum. Einerseits setzte man landwirtschaftliche Geräte ohne großartige Verzuckerungen als Waffen ein; andererseits bildete man sich nach einer Vitalpunktlehre weiter.
Tetsuhiro erzählt, wie er als Schüler berühmte Meister „für gewöhnliche alte Männer“ hielt. Die Selbstironie schillert in der Doppelgesichtigkeit von Luzidität und Biermarotten. Man ist auch noch als Waffe aus Fleisch und Blut ein Kind seiner Zeit und ihrer matten Scherze.
Da fällt mir eine Szene ein, die sich in meiner Jugend abspielte. Zwei Taekwondo-Großmeister, namentlich Hong Yang Park und der erste WTF-Weltmeister (in der Geschichte des Verbandes) Kim Chul-Hwan, schlendern über die Zeil. Eine Nachtgestalt mit Rüpelmeriten frontet die Koreaner. Breitbeinig bietet sich der Ahnungslose als Ziel an. Man könnte ihm zumindest ansatzweise sein Komplettversagen klarmachen. Die Koryphäen zeigen daran kein Interesse. Sie schaffen zwischen sich einen Freiraum für den Armseligen. Sie haben nichts nötig.
Nichts wird wahr ohne sein Gegenteil
Damals fielen jedes Wochenende Leute aus dem Frankfurter Speckgürtel ein; zwanzigjährige Schlachtergesellen mit einer rechten Geraden, die kein Mensch einfach wegstecken konnte. Es liefen Kapazitäten auf, die in einer Nacht drei Schlägereien mit einer einzigen Technik für sich entschieden. Die trainierten wie Rocky an Rinderhälften, wenn auch nur zum Spaß. Sie hatten Training nicht nötig.
Typen wie mich hatten sie gefressen, weil sie Karate affig fanden. Erschwerend hinzu kam, dass sie in mir einen Akademiker in spe witterten. Studierte hielt man für besonders blöd.