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2024-12-08 11:14:51, Jamal

Musenzeit: „Stark ist das, unmittelbar einnehmend!"

Musenzeit: „Diese Episode gefällt mir besonders gut, in mir tauchen die Figuren und die ganze Szenerie sehr klar auf. Die Schlussszene mit Fatou ist besonders berührend.“

Jamal: „Liebe Musenzeit, vielen Dank. Nicht zuletzt dein Interesse zeigt mir die Szenerie noch einmal deutlich. Das ist ja alles in mir abgesunken, ein Strand aus Sedimenten an meinem stream of consciousness - das war ein wichtiges Wort für mich in meiner Jugend. Stream of consciousness - das war, was man über den 'Ulysses' von James Joyce wusste. Das ganze Buch ein Bewusstseinsstrom. Ich will dahin nicht abbiegen in unserem Gespräch, sondern nur den Sedimentstrand plausibilisieren.“

Lüsternes Halbwissen

Alles beginnt in New York. Einer, der mit allen zu tun hat, ein guter Mann an sich, aber bestimmt nicht solide, überreizt sein Blatt und wird gefeuert. Man setzt ihn vor die Tür des Wohlstands und der Teilhabe. Man sperrt ihn aus. Er gehört jetzt zu keiner Entourage mehr und kann sich kein Freibier mehr für ein Lächeln kaufen. Er zieht lange Linien, er hat Kosten. Also wechselt er die Seite. Der geborene Gast geht in die Küche. Natürlich geht so einer nicht in irgendeine Kneipenküche, sondern dahin, wo es weh tut und der Unterschied zwischen High und Low Life so illustrativ ist wie ein Blockbuster. Vorn ist ein öffentliches Wohnzimmer exzentrischer Wallstreet-Koryphäen, hinten tanzt die Hexenküche auf dem Vulkan der Grandiosität unter kriegsähnlichen Zuständen. Dazwischen liegt der Pass. Man ist da zwischen Himmel und Hölle.

Wo sich zwei Welten berühren: da liegt der Pass im kolumbianischen Schnee einer ergebenen Mannschaft, die auf ihren Patron schwört, ihm sklavisch dient und dafür Gladiatorenfreuden genießt.

Unser Mann muss noch mal von vorn anfangen. In seiner neuen Rolle nennt er sich Nelson. Seine Lehrmeisterin erscheint als Rache der Unterschicht und fordert Unterwerfung. Eine göttliche Offenbarung riss Ellen einst aus dem Rinnstein und expedierte sie beinah ohne Weiteres in die Küche des großen Woog-Lee Milestone. Der Dinosaurier seines Fachs gehörte einer Kohorte von Küchenrevolutionären einst an, die der molekularen Laborgastronomie mit unversöhnlichen Interventionen ein Reservat anwies. Inzwischen lässt sich der Veteran nur noch historisch erklären. Woog-Lee profitiert von dem Wunsch seiner Gäste, einen Helden am Herd zu vermuten. Ihr lüsternes Halbwissen interpretiert die Küche als Raubtierkäfig mit Greifern aller Größe. Woog-Lee spielt in diesem Szenario den König der Tiere.

In Wahrheit schmeißt Ellen den Laden. Sie hält Woog-Lee davon ab, den eigenen Trog zu zerlegen.

Da sind zwanzig Leute im Einsatz, alles Könnerinnen und Könner, und jede/r für sich hat eine irre Geschichte, und doch steht und fällt alles mit einer Person. Ellens Hände offenbaren die Herkunft von Obst und Gemüse, das Geschlecht und die Verfassung eines jeden, der damit in Berührung gekommen ist. Ellens Hände sehen vom Keim, über die Fruchtreife und ihre Ackerreihe, die menstruierende Erntehelferin, den taufrisch nach einer Ejakulation zupackenden Stauer bis zur depressiven Köchin supervisionär alles und alle.

Ellens Unentbehrlichkeit ist ein bestens gehütetes Geschäftsgeheimnis. Niemand fände es plausibel für die Tellerfertigkeit einer Drogenkranken, die sich täglich neu mit Rigorosität und Religion kuriert, seinen Namen auf Wartelisten setzen zu lassen und das Preisniveau akzeptabel zu finden. Überall inspizieren missmutig-graue Eminenzen die Frontlinie, doch der Gast sieht bloß die Löwenattrappe davor. Er zahlt für eine gelungene Inszenierung, nicht für die Rehabilitation einer Abgestürzten.  

Zehn Jahre später steht Nelson im Unterhemd am Herd der Burgschänke. Er raucht über ‚seinen‘ Creusettöpfe - das sind seine, niemand sonst darf sie verwenden - der Schweiß überrennt das Donnerhaupt wie Schmelzwasser einen Stein. Asche und Schweiß fusionieren mit den Dingen in den Töpfen.

Es bleibt eine Schweinerei, die in einem Wunder der Suggestion zum magischen Vorgang transformiert. Nie sieht ein Gast die Küche und den uniformierten Fleiß, die eiserne Routine der Helferinnen, die von Nelson manchmal wie Sklavinnen und manchmal wie Halbgöttinnen behandelt werden. Er ist der Garant des Küchenfriedens sogar im Groll. Er bekocht das Migrantenfähnlein aus Bosnien, dem Kosovo, der Türkei und ich weiß nicht mehr woher.