Musenzeit: „Oh, lieber Jamal, danke - ich bin ganz versunken beim Lesen, so intensiv hat mich das jetzt gleich angeschwungen. Da ist so viel drin... Das genieße ich jetzt nochmal im Stillen nach. Dann kommentiere ich. Bis gleich...“
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Musenzeit: „Ich mag diesen ‚sagenhaften‘ Erzählstil mit all diesen symbolischen Hinweisen zwischendurch, eine Traumspur, die sich in die Realität hinein entwickelt und sprachlich so auch immer wieder neue Erlebnisräume für mich als Lesende schafft - das ist so schön dynamisch!“
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Musenzeit: „Stark ist das, unmittelbar einnehmend!"
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Musenzeit: „Danke, Jamal, ich habe diese Kommentare auch wie die anderen auf wattpatt in der Konversation angezeigt bekommen. Ich werde mich trotzdem wieder etwas mehr hierher bewegen, da das sonst vielleicht zu unübersichtlich wird.Das Handicap-Prinzip bringe ich jetzt noch nicht in Verbindung mit den Stationen unserer Wortwege...Es gefällt mir richtig gut, wo wir heute so überall mit Hannes in den Peripherien der Story unterwegs sind. Ich liebe das Explorieren sehr... und fast wollte ich schon herumfliegen schreiben, so flott trägst du mich durch die Gassen und Zeiten! Das lässt mich lächeln, danke!“
“I was told to train day and night.“ Shinjo Kiyohide
”Wehether you awake or asleep always think about Karate.“ Matsuda Hirokazu
Der indische Elefant
Landgraf Carl von Hessen-Kassel (1654 - 1730) gründete das Collegium Carolinum im Stil einer Ritterakademie zur Vorbereitung des aristokratischen Nachwuchses auf eine akademische Laufbahn in den Fächern Rauchen, Trinken, Raufen und Poussieren. Am liebsten trieben sich die Gymnasiasten in den Randgemarkungen des Reinhardswalds herum. Da lagen Wüstungen in Schwermut brach. Kirchen und Burgen zerfielen. Die geharnischten Schüler gingen in Ruinen auf Sauenhatz. Sie jagten mit Hunden, halben Bestien. Nach alter Art speerten sie das Wild. Sie fassten sich gegenseitig an die Gurgel in der Festlichkeit des Rausches. Bauern beschwerten sich über die Blüte des Landes, der Fürst winkte ab. Wer ihm vorrangig zu dienen hatte, sollte zu fromm nicht sein.
Ein Kesselmann ritt mit zum Ahlberg. Er kämpfte im Siebenjährigen Krieg (1756 - 1763). Der Krieg zog Schneisen wie ein Holzvollernter. Die Entwurzelten fanden zu den Gewissheiten und Orten ihrer Herkunft nicht mehr zurück. Friedrich II. von Hessen-Kassel (1720 - 1785) erkannte im Leiden seines Volkes einen Ursprung des wissenschaftlichen Fortschritts. Armut hielt er für ein medizinisches Problem. Soldaten wurden zu Invaliden und Vagabunden, ein Tross von Witwen und Waisen lebte prekär. Groß war die Zahl unehelicher Kinder. Jedes Jahr fanden Hinrichtungen von Kindsmörderinnen statt.
Als Friedrich aus der Braunschweiger Kur, die ihm seine Räte im Siebenjährigen Krieg verordnet hatten, in die kurhessische Hauptstadt zurückkehrte, hatte er nicht nur Pläne für eine verbesserte Technische Hochschule und für ein Medico-Chirugicum nach Braunschweiger Vorbild im Gepäck, sondern auch einen indischen Elefanten im Gefolge. Das Tier blieb eine Sensation über den Tod hinaus. Ausgestopft übertraf es in seinem Schauwert alles. Es wirkte dramatisch urzeitlich und fuselte neben zwei Leoparden. Ein Kamel, das die Reise nach Kassel nicht überlebt hatte, so wie Fledermäuse komplettierten das Arrangement in Gesellschaft exotischer Vögel vom Strauß bis zum Kolibri.
Das Ensemble zog 1790 ins Schloss Wilhelmshöhe. Der Kasten war 1787 an die Stelle des Klosters Weißenstein gesetzt worden. Oberbaudirektor du Ry hatte es als Sommerfrische klein gehalten. Wilhelm IX. (als Kurfürst Wilhelm I. 1743 - 1821) fand nun die Sache zu beschränkt und ließ klassizistisch aufstocken. Du Rys Nachfolger Jussow führte das Werk weiter in einer Inszenierung von Strenge. Die Decken liegen immer noch achtzig Fuß über den Böden. Vor dem Portal imponieren gewaltig freistehende Säulen. Argantische Lampen (nach Aimé Argand) illuminierten damals den Schlosspark.
Pharaonische Totenstille
Musenzeit: „Oh, lieber Jamal, danke - ich bin ganz versunken beim Lesen, so intensiv hat mich das jetzt gleich angeschwungen. Da ist so viel drin... Das genieße ich jetzt nochmal im Stillen nach. Dann kommentiere ich. Bis gleich...“
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Musenzeit: „Stark ist das, unmittelbar einnehmend!“
Früher brüteten Vögel in einem Rollladenkasten; Hannes bemerkt eine pharaonische Totenstille in seinem Großelternhaus. Das Haus, in dem er aufgewachsen ist, steht der Burg gegenüber. Den größten Teil seines Lebens schaute Hannes auf den Gernegroß-Garten. Unter seinem Kinderzimmerfenster lag die geduckte Anlage der Burg. Seine innere Topografie spiegelt sich in den räumlichen Verhältnissen auf der anderen Straßenseite. Seit ein paar Jahren nutzen die Kesselmanns das Haus der Familie als Brutplatz der nächsten Generation. Sogar der unfähigste aller Kesselmanns hat gezeugt. Die Mutter seines Sohn lebt mit dem Kind im Schloss. Babu besucht die Kleinfamilie mit der Zurückhaltung eines entfernten Verwandten. Er weiß, dass ihn sein saufender Lebensstil disqualifiziert.
Die Burg, das Schloss - die Altvorderen liebten pompöse Benennungen für keineswegs schlichte Behausungen. Bis zu ihren Grabstellen legten die Patrizier größten Wert auf Geltung. Die Kesselmanns galten etwas in der Welt, nicht nur in Frankfurt. Doch schrumpft der Bestand seit hundert Jahren. Babus Schwester Valerie lebt mit ihrer Familie im Schloss, genauso wie ihre Mutter, die Franz, und ihre Tante, die Toni. Tante Toni ist Hannes' Mutter. Hannes wohnt ein Steinwurf weit weg, könnte aber jederzeit und für immer heim kommen. Platz ist genug da.
Vor lange Zeit, als Hannes noch keine zehn Jahre alt war, hatte er einen Traum, der komplett außerhalb seiner Realität angesiedelt war. Ich übersetze den Traumtext in eine verständliche Sprache und eine reale Umgebung. Erwachsenen sind die Sujets nicht fremd, auch dann nicht, wenn sie sonst wenig wissen über Japan.
Hannes findet sich in einem Dōjō wieder. Nach seinem geografischen Verständnis liegt es irgendwo in Japan. Doch geht es genauer, sobald man die übergeordnete Perspektive einnimmt.
„Auf der Landkarte kann man sehen, wie die alte Mera-Fernstraße, die über die Berge von Kyūshū bis nach Kumamoto führt, das Zentrum der Stadt S. durchzieht.“ Keiichirō Hirano, ‚Das Leben eines Anderen‘
Der erste Schauplatz eines vorbildlichen Lebenslaufs liegt verschwiegen auf der Kaiserinsel Kyūshū in der Präfektur Miyazaki. Nach einer Legende herrschte da die erste japanische Königin und fürstliche Schamanin Himiko, abgeschirmt von tausend Dienerinnen. Im Mittelalter florierten auf Kyūshū koreanisch inspirierte Porzellanmanufakturen. Eine breitflächige Christianisierung führte 1637 zu einem Bauernaufstand, der Shimabara-Rebellion unter Masuda Tokisada, den seine Gefolgsleute als eine Art Jesus ansahen.
Grandiose Kaldera-Formationen prägen die Landschaft. Die erdgeschichtlichen Verwerfungsexzesse liefern malerische Kulissen für schlagartige Entvölkerungsprozessionen. Manche ergötzen sich am Verfall. Stichwort Ruinen-Tourismus.
In dieser Gegend lernt Hannes (im Traum) Iaidô, die Kunst, das Schwert zu ziehen, Kalligrafie, Zen-Kontemplation und Kyokushin Karate. Nach seiner Rückkehr etabliert er sich als malende und dichtende Mittelpunktpersönlichkeit. Er entspricht dem japanischen Ideal einer Synthese von Feder und Schwert. Auf der beinah noch nachkriegsschäbigen Rückseite seines Frankfurter Viertels zieht er das Himiko Dōjō auf. Es ist viel mehr ein Nachbarschaftszentrum als eine Sportschule. Hannes genießt das Vertrauen einer weitgehend bürgerlichen Klientel. Das Dōjō dient Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Ausstellungen. Es gibt eine Tischtennisplatte und einen Tischfußballkasten. Bei Kaffee und Kuchen in der Klatschspalte herrscht ein ständiger Austausch mit regelmäßigen Basar- und Tauschbörse-Terminen. In diesem Klima finden viele Mütter ihre Kinder gut aufgehoben.
Wie gesagt, das geht alles über Hannes' Traum hinaus. Und doch ... eines Tages erscheint eine bildschöne, im Geist des bushi geformte Japanerin in Hannes' Dōjō und übergibt ihm das schriftliche Vermächtnis seines soeben verstorbenen Meisters. Himiko ist eine Tochter des Meisters. Sie erwartet, von Hannes geheiratet zu werden. Vielleicht trifft Hochzeit das nicht ganz, was im Traum geschieht. Jedenfalls erwacht Hannes mit dem Gefühl, einen Meister (gehabt) zu haben. Außerdem glaubt er, den Befehl empfangen zu haben, seine Hände abzuhärten.
„Härte deine Hände ab.“
Noch am selben Tag begibt sich an Hannes auf den Lohrberg und darüberhinaus. Auf einem Saumpfad hoch über dem Wald von Bad Vilbel beginnt er mit der Konditionierung. Er schlägt seine Handkanten gegen die Querschnitte gefällter und am Wegesrandes gestapelter Baumstämme. Fünf Jahre später wird er bei „Wetten dass ..." einem begeisterten Publikum seine unglaubliche Schlagkraft vorführen. Ein schlanker Adoleszent, Typ Gymnasiast, haut alles Mögliche kurz und klein. Die Fachwelt staunt.
Liebe Musenzeit, nie zuvor ist diese Geschichte richtig erzählt worden. Ich könnte wir sagen. Wir fuhren täglich von der Schule, wo wir schon Stunden gemeinsam in einem Raum verbrachte hatten, zum kollektiven Kiffen zu Alissa in die Villa, die damals eine Riesenbaustelle war und heute ein Schmuckstück ist. In manchen Zimmern waren die Fußböden aufgerissen, so dass man über Bohlen balancieren musste. Die Elektrizität im Haus war eine zurückgebliebene Angelegenheit. Flackerndes Kerzenlicht gehörte zur Inszenierung.
Zwar schloss Hannes der Plural ein, aber meistens war er nicht dabei, sondern im Training. Die höheren Töchter und Söhne ächzten schon bei der geringsten Anstrengung. Sie befühlten Hannes' Bauchmuskeln.
Silke (oder war es Britta?) sagte: „Du fühlst dich für mich zu hart an.“
Sterne am Qi-Himmel
Dann gingen die Kifferköniginnen auf den Indien-, Yoga- und Wald-Trip und gaben so die Richtung für Mit- und Nachläuferinnen vor. Hannes war aber ein Vorläufer. Es ging alles wild durcheinander, doch war nun allgemein Bewegung im Spiel.
Himiko und Hannes spielten Boule auf verwunschenen Wiesen. Sie spielten Federball - und Tischtennis. Sie gingen spazieren wie ein altes Ehepaar. Für ungesunde Sachen waren sie nicht zu haben. Sie sammelten Brennnesseln für einen Sud, der Pflanzenläuse killte. Heimlich bespielten sie einen antiken Trimm-dich-Pfad. Yoga konnte man öffentlich gut finden, aber Trimm-dich war Turnvater Jahn und ganz bestimmt nichts für die Jeunesse dorée von Frankfurt.
Die feinen Unterschiede müssen unbedingt noch besprochen werden. Wie wir uns hoch- und runtergeschlafen haben.
Himiko zog eine Linie zwischen Brennnesselsud, Erdbeeren-selber-pflücken, Marmelade einkochen, Kuchen nach japanischen Omarezepten backen und sich zu kultivieren.
Ich springe in eine Szene - Himiko will auf den Trimmpfad. Sie und Hannes absolvieren den Parcours, bevor sie ihre Qi-Übungen machen. Sie animieren die Kraftpunkte. Der Nabel ist die Quelle der Lebenskraft. Sie kennen Spitzenjudoka, die von Zen noch nie gehört haben. Ein PSV-Karatelehrer aus der Nachbarschaft ist ein beamteter Nussknacker, der Zackigkeit für den Schlüssel zum Verständnis seines „Sports“ hält.
Boxen ist ein Maßstab des Westens. Da weiß man, dass man nichts Falsches lernt und nichts Verblasenes zu hören kriegt.
Ein koreanischer Großmeister pflegt die bayrische Biergemütlichkeit. Ein Taijiquan-Experte beruft sich auf eine autodidaktische Ausbildung, die ihn nebenbei dazu befähigt, ein Buch über fernöstliche Meditation und Vertrauensspiele zu schreiben. Ich habe noch ein Exemplar. Vielleicht zeige ich es euch mal. Dieser Autor war einer unserer Sportlehrer. Er hatte eine Vergangenheit als Bundesligahandballer und war nun auf den Trichter gekommen, dass soft gut kam. Es ging ums Anfassen, ich hatte das lange nicht mehr auf dem Schirm. Ständig wurde angefasst, das ginge heute auch nicht mehr.
Wir sind Blinde auf dem Qi Gong-Weg, doch Sehende auf dem Trimm-dich-Pfad. Was wir begreifen, hängt von unserer Prägung ab. Hannes will darüber hinaus. Ein Gewährsmann ist ein südvietnamesischer Geflüchteter. Xuan praktiziert ohne spirituelle Verzuckerung. Er ölt seine Maschine, hält den Motor gymnastisch im Topzustand.
Das ist es. Hannes hat schon Karate, Taekwondo, Boxen, kameradschaftliches Judo und dieses Schein-Taijiquan in seinem Budo-Portfolio. Doch erst Xuan zeigt ihm die Sterne am Qi-Himmel.
Eine Ahnung beginnt in ihm aufzudämmern.
Eben fiel mir eine Geschichte ein, an die ich lange nicht mehr gedacht habe. Ich klapperte Anglerheime, Campingplatzschwemmen und Gartengaststätten am Main zwischen Frankfurt und Aschaffenburg ab. Weitere lohnenswerte Ziele waren in meinen Augen verschwiegen-eingesessene Griechen und Portugiesen, die von ihren Landsleuten wegen ihrer Heimat verheißenden Küchen besucht wurden. Jede Menge Migranten waren im Rheinmain-Delta in der Unauffälligkeit mehrheitsgesellschaftlicher Arrangements verschwunden. Ihre Häuser hatten sie an Kleinstadtränder gebaut. Sie folgten anderen Präferenzen und beachteten andere Umgebungszeichen als die ursprünglichen Deutschen und sie fuhren gut mit dem importierten Wissen.
Manche Anglerheime wurden von verkrachten Paaren im Last Exit Style bewirtschaftet. Ich erinnere mysteriöse Schauplätze. Da materialisierte sich mitunter eine schon lange nicht mehr tageslichttaugliche Gestalt im Halbdunkel eines Verschlags. In einer als Anglerheim deklarierten Baracke, einem finsteren Loch kurz vor Offenbach, sah ich zum ersten Mal Ariane. Aber das ist auch schon wieder eine andere Geschichte.