„Man selbst zu sein ist ein Gefühl; und niemand anders wird das je so direkt wissen wie man selbst." Ludwig Huber
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Die größten Bauwerke der Welt erschaffen Korallenpolypen. Sie betreiben Fotosynthese und beziehen Nährstoffe von mikroorganischen Nutznießern ihrer Riffe. Hundertausende Arten leben „auf engstem Raum in Freundschaft und Feindschaft zusammen".
Diese Umwelt ist zu komplex, um sie allein mit Nahsinnen (Tasten, Riechen, Schmecken) bis zur Übersichtlichkeit in den Griff zu bekommen. In der verdichteten Unterschiedlichkeit bietet das Gehör nicht genug Filter, um im Spektrum zwischen Gefahr und Fortpflanzung „identifizierbare Geräuschmuster" zu entwickeln. Denken Sie an die Akustik in einer überfüllten Wartehalle. In jedem Gewimmel sorgen allein prägnante Farben für eine effektive Unterscheidung.
„Farbe ist das leistungsfähigste Orientierungssystem der Natur."
Mit dieser Ansage eröffnet Axel Buether einen Reigen spannender Erklärungen. „Buntheit" beweist Biodiversität. Sie indiziert Vielfalt. Buether erwähnt die Funktionen von Farben in den sieben Kategorien „Orientierung, Gesundheit, Warnung, Tarnung, Werbung, Status und Verständigung".
Die Lieder meiner Mutter
„Wie kann Malerei nur so fotogen sein?" fragt Marianne. Hannes zuckt mit den Achseln. Die beiden sind in der Galerie Pfeiffer und gucken sich Bilder an, die Marianne zu dekorativ sind ... dieses Ausschwärmen mit Farben ... eine Bildbearbeitungsprogrammkunst ... retardierendes Design. Hannes verweigert seine Zustimmung zu Mariannes Kritik. Im nächsten Augenblick finden sich die beiden in einer Dachterrassenszene über der Hanauer Landstraße wieder. Manche Akteure schmiegen sich wie Miettänzer an die Brüstung. Unter dem Hornfließ der Konventionen tobt der Konkurrenzkampf. Die Täuschung regiert.
Dann sind sie wieder bei Hannes. Neue Mieterinnen lassen Gläser im Treppenhaus stehen. Sie baden und staubsaugen in frühen Morgenstunden. In ihren Kreisen sind sie Celebrities. Das Fernsehen war schon da.
An einem anderen Tag - Musenzeit aus dem Off
Marianne trifft ihre Mutter am Main, an einer Stelle, die Hannes ihr bei einem Spaziergang ans Herz gelegt hat.
Als Robert Schumann 1829 nach Frankfurt kam, hörte er am Main die Nachtigallen schlagen und der flatternde Flieder und die wogenden Akazien dufteten stark. Das entspricht dem Grundton vieler Beschreibungen durch die Jahrhunderte. Man fand Frankfurt reizvoll, reich an Promenaden und Terrassen. Von seiner geografischen Lage ebenso wie von einem milden Klima begünstigt, glänzte „der große Kanal, durch den alles Gold Europas fließt", so Johann Kaspar Riesbeck 1780. Die enge Judengasse, blutige Fleisch-Schirne und der Morast Sachsenhausens verdorben den Eindruck nicht. Biederer Bürgersinn beobachtete darin ohnehin nur objektive Bedingungen städtischen Fortschritts.
Marianne erinnert, dass sich ihre Mutter stundenlang in den botanischen Garten zurückzog, wenn die Familie in Perth weilte. Auf Luftaufnahmen sieht Perth aus wie eine Spielzeugstadt in einem kolossalen Sandkasten.
Marianne spürt ihrer Unruhe nach, ihr ist nicht nach Smalltalk zumute. Sie starrt Gruben in den Kieselsteinweg vor der Bank, auf der sie mit ihrer Mutter sitzt. Dass sie Deutsch mit ihr spricht, irritiert sie. Es klingt nach einer Fremden.
„Warum bist du damals wirklich weggegangen, Mama?"
Marianne hat viel zu lange gewartet. Ihre Frage ist über all die Jahre zu einem grell gebündelten Scheinwerferlicht geworden. Sie erschrickt über die schmerzliche Intensität, die sich wie Krallen in ihre Gegenwart bohrt, und schließt die Augen. Die Augenblicke verschwimmen im schmerzlich-innigen Miteinander. Sie lauscht der liebevollen, so vertrauten Stimme aus ihrer Kindheit.
Die Worte ihrer Mutter schaukeln noch auf den Flusswellen wie eine zärtlich-verspielte Sonnenlichtmalereie. Längst ist Mariannes Mutter wieder gegangen. Hat sie ihr das alles so erzählt?
„Wie hätte ich dir das alles damals erklären sollen? Du warst noch so jung... Ein Brief war einfach zu wenig, ich habe sie alle wieder zerrissen, habe dir nur von meiner Arbeit erzählt. Ja, ich habe mich geschämt vor dir, vor deinen Geschwistern... Dein Vater kannte kein Privat mehr, seine Arbeit war sein Leben. Ständig unterwegs, ein Projekt mal hier, dann das nächste wieder dort. Und wir als Familie brav hinterher. Als sein sicherer Hafen. Im Bett sollte ich seine hohen Wogen dann wieder empfangen und glätten, seine zärtliche Frischluftzufuhr nach den sauerstoffarmen Minenzeiten und verstaubten Büromeetings sein. Alles blieb an mir und in mir hängen, ich wurde so schwer wie einer jener Zementsäcke, die sich um uns herum stapelten. Die Organisation, der Haushalt, die Kinder... Irgendwann hörte ich meine Lieder nicht mehr. Als ob in mir der Stecker gezogen wurde, nur noch diese entsetzliche Stille. Ich fühlte mich so furchtbar heimwehkrank, dabei hätte ich noch nicht einmal sagen können, wo meine Heimat eigentlich ist. Australien wurde mir immer fremder. Ich bin mir selbst über die Jahre eine Fremde geworden. Ich konnte euch nicht einmal mehr in die Augen schauen. Es brach mir das Herz, deinen Vater und damit auch Euch zu verlassen... und wäre Inga nicht gewesen, hätte ich es niemals gewagt. Sie war schon eine so reife junge Frau und ihr zwei wart von Beginn an ein Herz und eine Seele, ich wusste tief in meinem Herzen, sie würde bei dir sein, wenn ich mich auf den Weg mache... dein Vater hat es mir nie verziehen, dass ich gegangen bin. In seinen Augen habe ich egoistisch und verantwortungslos gehandelt. Ich möchte es mir das irgendwann selbst verzeihen. Ich habe so mein Leben, meine Lieder wiedergefunden. Damit ich dich besser lieben kann..."