Musenzeit: „Wenn jemand so talentiert mit Worten umgehen kann, wie du hast du auf dieser Schiene viel Potential, in Interaktionen Kraftfelder zu bauen und anzubieten. Ich merke die Wirkungen unmittelbar beim Lesen, natürlich. Hast du auch Sprachaufnahmen zu deinen Texten gemacht?“
*
Musenzeit: „Danke, ich lese ihn in Ruhe. - Nein, das Teilen stört mich natürlich nicht, das ist gerade für wattpatt mal sinnvoll. Es ist ja alles so gemeint, wie ich es schreibe zu den Texten. Meine ‚Musenzeit' ist dafür da, gerade in unserer Kollaboration auch zu sagen, was sie bewegt - das ist ja ihr ‚Job' als öffentliche Erzählerin, wenn man das so nennen mag. Schade, dass das so wenig Usus scheint auf diesem wattpatt- Netzwerk, zu interagieren und zu sagen, was einem am Text gefällt oder auch rückzumelden, was man nicht versteht. Zumindest die Wirkung mitzuteilen, die der Text auf einen hat. Für mich ist das Sinn und Zweck von solchen Plattformen. Sonst lese ich doch lieber ein Buch oder schreibe alleine für mich. Auf story1 ist es unter der ‚community' so, dass man sich gegenseitig unterstützt für die Schreiblust. Jeder Sprachausdruck ist einzigartig, das sind alternative Formen von Begegnungen. Ich kenne inzwischen auch einige Autorinnen persönlich, das macht es natürlich nochmal einfacher.
Deine Texte und Einfälle finde ich persönlich sehr besonders, von hoher sprachlicher Qualität und sehr inspirierend, dafür begeistere ich mich auf vielen Ebenen. Das fließt dann auch in die Rückmeldungen (die ich eh schon einkürze). ;-) Zu deinem heutigen Foto (ich mag deinen Ausdruck!) fiel mir spontan noch ‚Wächter' ein als Assoziation..."
*
Musenzeit: „Oh, lieber Jamal, danke - ich bin ganz versunken beim Lesen, so intensiv hat mich das jetzt gleich angeschwungen. Da ist so viel drin... Das genieße ich jetzt nochmal im Stillen nach. Dann kommentiere ich. Bis gleich..."
*
Musenzeit: „Ja, genau so ist es. Starke Sprachbilder sind das! Und Marianne denkt sich so ihren Teil..."
Maskirovka
In einer russischen Spielart heißt militärische Täuschung Maskirovka, wörtlich Verkleidung. Die Doktrin wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt. Sie deckt ein breites Spektrum an Maßnahmen zur Täuschung ab, bis hin zur Leugnung der Täuschung.
*
Hannes sitzt im Auslug, neben dem Schlupfwinkel. So nennt er seine Dachkammern. Er besitzt sie in aller Heimlichkeit. Hannes treibt das Bedürfnis, Informationen zurückzuhalten. Er befolgt Familienratschläge. Ihm wurde eingetrichtert, ohne Not nichts preiszugeben. Die erste Garde jener, die im Nordend etwas an den Füßen hatten und deshalb vor niemandem buckeln mussten, würfelten in Hannes‘ Kindheitsdamals ab nachmittags am Tresen der Schankwirtschaft Schneider. Da gab es schon lange keinen Schneider-Wirt mehr. Das Geschäft führte die Ukrainerin Kateryna, kurz Kati. Um sich abzuheben von den Bankschnöseln trugen die Hausmeister von Frühjahr bis Spätsommer nur Schiesser Feinripp Unterhemden und, als zweites unverzichtbares Erkennungsmerkmal, Hosenträger. Der Statusmelder für die Unbedarften war der Goldbrocken am Gelenk, in jedem Fall eine Magnum unter Uhren.
Wem was gehört: das war die entscheidende Frage im alten Nordend. Das entschied, wer wen heiratete. Ja, es ging bei uns zu wie im Orient. Wir waren Protestanten und diskriminierten die Katholiken, die aber über eigene Bastionen verfügten.
Hannes unterscheidet sich von vielen auch deshalb, weil er den Plan noch kennt, auf dem die ursprünglichen Eigentumsverhältnisse verzeichnet waren.
*
Er hält Ausschau nach Marianne. Gestern war er mit ihr im Bornheimer Bürgerhaus schwofen, die Grenze zum Ostend läuft durch die Arnsburger Straße. Die Grenze war eine Hecke einst, ein Heckenmeister kümmerte sich darum. Den Heckenmeister unterstützten Knechte. An der Wittelsbacher Allee steht noch ein Gemarkungsstein. Da war das jüdische Krankenhaus.
Ein Fahrradfahrer hält großartig neben einer fadenscheinigen Erscheinung am Kinderwagen. Der Handfeste zum Wolkigen: „Wenigstens einmal etwas hingekriegt, das Hand und Fuß hat.“
In Berlin nennt man den Nachwuchs von Greisen „Knackerkinder“.
Marianne erscheint nicht an der verabredeten Stelle. Hannes kehrt kaum beunruhigt in seine Wohnung zurück. Karolin ist noch da. Auf ihrem T-Hemd steht Lieber in Frankfurt sterben, als in Offenbach leben, der Putzeimer gehört nicht auf die Anrichte. Karolin hat den Eimerboden mit einem Lumpen drapiert. Auf den Lumpen liegen Handschuhe in eleganter Verdrehung.
Karolin putzt bei ehemaligen Freunden und karitativen Bekannten. Im Weiteren tanzt sie den Walzer der Wohlfahrt. Wann war das, als Karolin aus der Kurve getragen wurde und ihre Art zu sein nicht mehr zu den Narrativen im Spektrum der erweiterten Unauffälligkeit passte? Niemand hat Karolin vor die Tür des allgemeinen Laissez-faire gesetzt. Das sind normale Vorgänge der Dissoziation, die Karolin einschränken, findet Hannes nach wie vor. Er war schon als Jugendlicher Urgestein und verkörpert die lokale Ordnung im dritten Kreis der Macht. Ein Schlüsselbund mit so vielen Schlüsseln wie für fünf Häuser vom Keller bis zum Dachboden zeigt das an.
Hannes offeriert Karolin einen Schoppen aus dem Wohnungsbembel. In seinem Wohnzimmer hängt ein Poster, das Kurt Cobain 1993 auf der West 42nd Street in Manhattan vor einem Kino zeigt. Die Anzeigetafel (das Menetekel) meldet Men Don‘t Protect You Anymore. Der Satz taucht bereits in den Survival Series (1983 - 1985) der Konzeptkünstlerin Jenny Holzer auf.
Karolin bleibt noch ein bisschen.