Musenzeit: „Wenn jemand so talentiert mit Worten umgehen kann, wie du hast du auf dieser Schiene viel Potential, in Interaktionen Kraftfelder zu bauen und anzubieten. Ich merke die Wirkungen unmittelbar beim Lesen, natürlich. Hast du auch Sprachaufnahmen zu deinen Texten gemacht?“
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Musenzeit: „Das sind sehr besondere Liebesaussichten für die beiden“, sagt M. „Mal schauen, ob uns dieses alte Holzschiff sicher durch unsere Wogen tragen wird“, schmunzelt Marianne und überrascht Hannes mit einer Einladung zu einer neuen Variante... -
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„Mich gehen diese (römischen) Kaiser nichts an ... mich interessiert nur, dass sie zu Text von Tacitus geworden sind.“ Heiner Müller
Erfundene Folklore
Britta trumpft mit schwedischen Süßigkeiten auf, die das Gespräch erst einmal aus der Kurve tragen. Die Lösgodis aus dem Angebot von Drago, der das alte Rexgildo in der Schopenhauer Straße als Rullgardinas Godis neu aufgezogen hat, entfesseln einen bis eben gebändigten Übermut. Die Freundinnen starten einen Ausgelassenheitsüberbietungswettbewerb. Das Versagen bei der Aussprache von Hallonbatar (Himbeerboote), Pastellfiskar (Pastellfische) Sura Sjöstjärnor (saure Seesterne), Sura Skallar (saure Totenköpfe), Lakkris Djöflar (Lakritz-Teufelchen) und Tyrkisk Peber (Salmiak-Pfeffer-Leckerlis) löst Lebensäußerungen wie auf einem Kindergeburtstag aus. Im Damenkranz weiß nur Britta Bescheid. Nur sie kennt die wahre Geschichte des Souterrains, in der Drago nun skandinavischen Schleck & Babb verhökert, nach Danielas Burnout. Brittas ehemals beste Freundin Daniela hatte das Rexgildo als Second Hand Boutique und Plattenbörse geführt, inspiriert von Vivienne Westwoods Verwandlungen. Daniela war Avantgarde gewesen, bevor sie eine Trödeltussi wurde, die für den Feierabend lebte, den sie in Guidos Kristallpalast absaß, einer karg bewirtschafteten Eckkneipe im Hinterland der Bornheimer Landwehr. Im Kristallpalast verkehren die Bembelbernemer.
Bernem sagen die Einheimischen zu dem Frankfurter Stadtteil Bornheim.
Die Bembelbernemer bestreiten nicht zuletzt mit dem Verkauf von Haddekuche ihren Lebensunterhalt. Sie bieten Gebäck in Gaststätten an. Ihre Auftritte suggerieren eine Tradition von hundert Jahren. In Wahrheit stammt die Figur des fliegenden Backwarenbornheimers aus Daseinssümpfen der 1970er Jahre. Von der Pleite bedrohte Musiker und andere Kneipenexistenzen retteten sich zu einer erfundenen Folklore.
Daniela hatte ursprünglich nur auf die Einraumwohnung hinter dem Ausschank spekuliert. Die älteste Brezelpraline kam zu einer Wirtschaft (als zweitem Standbein) wie die Jungfrau zum Kind. Solche Glücksfälle kommen nicht mehr vor. Man könnte tagelang mit Britta über das Verschwinden des Glücks spekulieren.
Sich in Zeitlupe überschlagene Ereignisse
„Interessant ist, was schmerzt und was verschwindet." Heiner Müller
Nah Amorbach (Adornos Kindheitssommerfrische) bewirtschaftet Tiago ein ehemaliges Naturfreundehaus im Stil einer Fischerkneipe. Der maritime Schrott ist Erbplunder eines Nachfahren von Seefahrern. Tiago zieht die portugiesische Gemeinde zwischen Offenbach und Würzburg an. Einst deutlich von der Mehrheitsgesellschaft getrennte Migranten haben fast alle Differenzmerkmale abgelegt. Sie sind in der Allgemeinheit aufgegangen ohne Deutsche geworden zu sein. In der dritten Generation ist man selbstverständlich immer noch Portugiese. In Tiagos Gaststätte nagt jeder an der Wurzel, egal, auf welcher Seite er, sein Vater oder Großvater stand, als die Nelkenrevolution von 1974 Freiheitshoffnungen stärkte.
Der Mensch überstand die Nacht von Yucatán als Maus unter der Erde. Er fürchtete sich in Höhlengängen. Er hatte es so weit gebracht, weil er als Beute den Sauriern unbedeutend erschienen war nach einer schlichten Kalkulation von Aufwand und Ertrag. Wie so oft drückte die Evolution nach einer Katastrophe die Resettaste - und eine Minusvariante setzte sich durch. So kam es zum Triumph des Gramms über die Tonne.
Hannes verliert sich in Überlegungen. Gestern noch war er eine Maus und heute ist er schon ein übertünchtes Grab, siehe Matthäus 23,27 „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! Denn ihr gleicht übertünchten Gräbern, die von außen zwar schön scheinen, innen aber voll von Totengebeinen und aller Unreinigkeit sind."
Eine Ewigkeit zum Leben
Hannes öffnet die Schlafzimmerfenster, zieht Gardinen vor und geht zu Bett. Marianne veröffentlicht ihr Behagen im Bad. Ein Streit auf der Straße erweitert das Programm zum Sendeschluss. In diesem Moment wünscht sich Hannes eine Ewigkeit zum Leben. Das Bett ist frisch bezogen, die Nacht dient der Tageshitze als Speicher. Hannes gesteht sich sein Glück in Oma Wagners Ehe- und seinem Geburtsbett. Er dreht sich zur Wand und stellt sich schlafend. Marianne schließt sich herausfordernd an.
„Das sind sehr besondere Liebesaussichten für die beiden", sagt Musenzeit. „Mal schauen, ob uns dieses alte Holzschiff sicher durch unsere Wogen tragen wird", schmunzelt Marianne und überrascht Hannes mit einer Einladung zu einer neuen Variante... -