Die Schwangerschaftsvertretung
„Wo ist die Garderobe?", fragt Fleckenstein.
Eine Garderobe gibt es nicht im Gernegroß und auch keine Nummern auf Stühlen. Das erklärt Britta dem großen Mann, von dem sie noch nie gehört hat. Aber, was weiß Britta schon? Wenn es darauf ankommt, ist alles Desaster. Gleichwohl froh und munter. Eben ein munteres Desaster. Nasenschweiß fegt heran, da steht der große Fleckenstein beinah wie Jürgen Prochnow.
Fleckenstein demnach. Der mit dem Fassbinder damals und später mit Wolfgang Deichsel, aber auch kommerziell erfolgreich, weil Wedel.
August Fleckenstein ist ein Gespenst aus Nasenschweißes Jugend. Nasenschweiß dreht die Orgel der besonderen Bewirtung, er empfiehlt den unentwegten Nachmittagstrinkern am Gernegroß-Tresen abzurücken. Macht euch ab in den Leichenschauraum* und lasst euch heute hier nicht mehr blicken. Nasenschweiß bittet mich da noch einmal bitte zu fegen, wo gerade noch traulich der Dielenboden berieselt wurde. Wäre an sich nur menschlich, aber nicht mit Fleckenstein im Haus.
*Die Raucherkammer der Burgschänke. Für die Zuspätgekommenen. Unter dem Dach der Burg arbeiten zwei Betriebe - das von Norbert Nasenschweiß gegründete Kleinkunstbühne Gernegroß und die von Kurt Wundersamen geerbte Burgschänke. Nasenschweiß wertet gerade sein Kabarett auf zum Frankfurter Burgtheater.
Fleckenstein gibt Hut und Mantel bei Nasenschweiß' Barchefin Leonie ab. Diese Gegenstände hat der Herbst schon etwas rau angefasst. Merlot singt ein Bedürfnis, dass im Ernst noch nicht einmal Kokain mit Rum befriedigen könnte. So ein gewaltiges Maul gehört zu Fleckenstein. Entsprechend sind die Hände.
Leonie steht mit Hut und Mantel da, das hatten wir noch nicht. Um ihr ganz klar zu machen, wen sie zu bedienen hat, erklärt Nasenschweiß: „Für diesen Herrn muss das Glas her, aus dem zuletzt Robert Gernhardt trank."
Leonie nimmt es aus der Vitrine, es macht sich unauffällig in ihrer Hand. Sieht aus wie jedes andere so ziemlich. Noch einmal spülen, der Mond ist doch jede Nacht ein anderes Nashorn.
Wohin mit Hut und Mantel? fragt sich Leonie.
Fleckenstein fährt Extremitäten aus. Über ihm jaulen Triebwerke. Ein Flugzeug kriegt die Kurve nicht. Kriegt sie doch. Die Maschine schraubt sich nur noch einmal in den Himmel. Als kosmischer Dübel sieht der Himmel fabelhaft aus. Der letzten Zitronenfalter gibt sich die Ehre.
Wie gesagt, das Dach ist abgedeckt. Ein Sturm soll es bis zum Unfallkrankenhaus mitgenommen haben.
„Mehr Merlot", jubelt Fleckenstein.
Leonie packt den Mantel zu den Putzdingen unter dem Zwillingstiefbecken. Der Hut behaust die Espressotassen auf der Kaffeemaschine. Die Kaffeemaschine beklagt den Kadavergehorsam der Gernecrossies, es hört ihr keiner zu. Britta verteilt Decken an die Gäste, Leonie geht noch mal vorsichtshalber. Die Klingel zitiert Säumige auf ihre Plätze.
Man beobachtet die Ausfahrt der landing flaps. Wie die gespreizten Flugfedern einer landenden Krähe verbreitern sie Tragflächen. Sie ziehen sich wieder zusammen, der Pilot startet durch. Sein Zeug gewinnt heulend Höhe. Manche Passagiere können nicht an sich halten und veröffentlichen schreckliche Befürchtungen. Man vernimmt das Geschrei im Himmel, manche hören auch das Gras wachsen. Wie mit Schaufeln geschlagen, fühle ich mich. Dabei wurde ich von Fleckenstein nur gefasst.
„Fabelhaft", schreit Fleckenstein. Das kann sich auf die Show nicht beziehen, vor ihrem Anfang ist noch nicht alles zu Ende. Die Technikerkanzel ist noch gar nicht besetzt. Ibo steckt in einer Meinungsumfrage im Milieu des Kassenhäuschens.
„Grandios", schreit Fleckenstein. Er kann doch nur den Merlot meinen und nicht etwa das Publikum in Decken. - Oder den Himmel im Ausschnitt.
Jetzt hat Fleckenstein Britta am Wickel.
„Fräulein", schreit Fleckenstein, „sitzt du auf deinen Ohren oder hörst du deinem Gehör grundsätzlich nicht zu."
„Nu ist aber mal gut", interveniert Leonie.
„Ibo", schreit Nasenschweiß. Er zappelt in Fleckensteins Fängen.
Fleckenstein trinkt aus der Flasche, was will er mit Gernhardts Glas. Wo er doch von Adenauer noch persönlich gezeugt wurde. Fleckenstein kreist auf einem Hocker, tätlich ausschwenkend. Rumms, das saß. Ein Hämatom in nächster Zukunft. Zack. Leonie räumt den Tresen bis zur nächsten Ausfahrt. Was hat der Mann lange Arme. Fleckenstein entdeckt eine Dame ... in einer strikt auf Taille getrimmten Kostümjacke, in der sie wie in einem Mieder steckt, das, so will es die Raffinesse, an eine Rüstung erinnert. Mit ausgestellter Aufmerksamkeit und echter Unruhe verfolgt sie die Einstimmung. Enorm intensiv, findet sich die Dame. Fleckenstein rumpelt gleich mal hin, vorstellen muss er sich nicht. Sogar an der Copacabana hat ihn ein Milcheisfachverkäufer schon einmal mit einer lokalen Größe verwechselt. So ähnlich sieht Fleckenstein der Bedeutung an sich. Er schubst den links von der Dame vom Stuhl. Die Höflichkeit gebietet ihm zu sagen: „Das ist mein Platz. Fragen Sie das Fräulein am Tresen s'il vous please, Arschloch."
Die Dame zupft an sich herum, dabei sitzt alles tadellos. Zur Abwechslung wendet sie sich dem rückwärtigen Publikum zu, sie wühlt zugleich in ihrer Tasche. Ein Flakon ist ausgelaufen, Parfüm tränkt Leder. Fleckenstein schließt die Augen. Die Atmosphäre im bis auf den letzten Stuhl bemannten Raumflug soll ihn wie eh und je gefangen nehmen. Er ist so ein Kunstgenießer.
Noch werden Instrumente gestimmt. Oder ist das schon das Konzert?
Die Flugzeuge donnern als weiter, das Gernegroß steckt in der eisernen Klammer der Konzentration. So muss sich das nach dem Krieg angefühlt haben, als man mit Kohlen ins Theater. Im Tross des Russen war auch Sibirien angekommen. Fleckenstein schreit: „Merlot."
Die Leute klatschen, man scheint sich inzwischen sicher zu sein, dass die Veranstaltung angefangen hat. Folglich passt die Pause vorzüglich ins Bild. Manche vermuten den Abtritt im Kassenhäuschen, Fleckenstein schreit Merlot. Die Gebildeten halten das für einen französisch gefassten Kommentar.
So wie ich im totalen Dschumm der zweiten Halbzeit es sehe, hat das Gernegroß nie ausgesehen. Die gewölbte Decke mit den Segeln, die verschachtelten Tribünen, schwebenden Treppen und Brücken, die versetzten Wände und Balustraden: gibt es nicht an Ort und Stelle.
„Willste noch Merlot?" fragt Nasenschweiß den Freund. Ist kurz vor Mitternacht, gequalmt wird schon wieder seit zwei Stunden. Leonie kommt mit Merlot, für jeden ne Flasche, also drei. Wozu hat der Mensch zwei Arme? Fleckenstein legt einen Arm um Leonies Taille. Bis eben war er in Berlin.
„Berlin kann jeder", sagt Nasenschweiß mechanisch. „Frankfurt, das ist die Kunst."
Fleckenstein sagt Merlot.
Aphrodite, Apollon, Demeter, Artemis, Hera, Nike, Fortuna: Seit Fleckenstein im Gernegroß Theater macht, gehören diese himmlischen Herrschaften pappkameradschaftlich zum Ensemble. Die letzte Olympiade vor dem Sturz der Götter bittet schon Goten in die Arena, doch wird am vorläufigen Ende das Gotische vom Politischen ersetzt werden, in der Frage nach der politischen Relevanz von Knackwürsten und idiotischen Texten, diesen selbstverfassten Schulausflügen in der Tradition eines Scheibenwischers oder Fahrtenschreibers. Fleckenstein trägt einen Jipi-Japa, vielleicht als Einwand gegen den nächsten Winter.
Zwischen Fleckenstein und Fleckenstein geht es um das Rot der Koschenillelaus, die auf den Opuntienfeldern der Kanaren gezüchtet wird, um zerquetscht zu werden. Fleckenstein behauptet, ohne dieses Rot nicht inszenieren zu können.
„Braucht wer den Scheiß?" fragt Britta.
Nun ist alles Mahnung und Appell. Eine Plane schützt den Himmel vor der Kleinkunst. Agnes bebt auf der Bühne. Fleckenstein: „Ich will dich brünstiger."
Das Pathosverbot wurde aufgehoben.
Nasenschweiß nickt gewaltig. Der Kopf knickt den Hals, der Leib verneigt sich vor dem Hirn in seiner Schale.
„Nur so geht es", erklärt er. Es ist auch noch früh am Tag, kurz nach spät, wie man so sagt, soweit es die letzte Nacht betrifft. Jeder weiß, dass Fleckenstein nur eine Episode im Geburtskanal der nächsten Tragödie bleiben wird. Agnes ist Liedermacherin, mit solider Ostausbildung an einer paramilitärischen Schauspielschule. - Ein Mädchen von fünfunddreißig Jahren. Dem wirren Fleckenstein ausgeliefert.
„Wir müssen uns dem Großen neuerlich gewachsen zeigen", behauptet der Regisseur. Das läuft unter der Überschrift: „Futuralistischer Maximalismus". Da spüle ich lieber Gläser, es ist einiges stehengeblieben. Liegengeblieben ist Nasenschweiß, bis man ihn geweckt hat. Freundschaftlich geweckt in alter Verbundenheit mit einem Schlappen ins Gesicht.
Agnes erinnert an den sozialistischen Realismus. Fleckenstein erinnert an die Fatalität einer gewissen Flaschendependenz. Nasenschweiß erinnert sich an nichts. Wie niedlich er aus dem Schlaf zu den Stimmungen seines Katers findet.
Die Obduktion ergab als Todesursache Apoplexia cerebri. Das war Fleckenstein im Gernegroß. Er durfte keine drei Wochen nerven.
„Nach all den renommierten Häusern gab ihm das Gernegroß den Rest", resümiert Hannes.
In jedem Märchen steckt ein Mythos, Fleckensteins römischer Himmel wurde schon abgehängt und zu den Prothesen des Kabaretts, seinen alten Hüten und der abgelebten Transsexualität in den Fundus getan. Oh Achselschweiß, oh Neodada.
Langsam erholt sich die Fauna von Fleckenstein. Zuerst kehren die Frösche zurück. Die Stockenten und Blesshühner ziehen wieder ins Schilf am Kelterkahn der Burg. Auch der Eichelhäher meldet sich zum Dienst. Marianne kreuzt wieder auf, sie hat ihr Baby dabei.