„Auch das ist ein Negativprodukt von Aufklärung - dass die Leute ständig meinen, sie müssten etwas verstehen … der Kopf gehört nicht ins Theater ... Erfahrung kann man nur blind machen.“ Heiner Müller
Der Nocebo-Effekt
„Wie mächtig der Nocebo-Effekt sein kann, zeigte einst ein Fall in den USA: Wissenschaftler um den Psychiater Roy Reeves … berichteten im Jahr 2007 … (von einem Mann) der an einer Antidepressiva-Studie teilnahm und sich mit den ihm überlassenen Psychopharmaka das Leben nehmen wollte. Tatsächlich sackte sein Blutdruck so tief, dass … (er) in eine Notaufnahme kam. Dort stellten die Ärzte jedoch fest, dass der Mann zu jener Hälfte der Studienteilnehmer gehörte, die ein Scheinmedikament bekommen hatten. Als der Mann davon erfuhr, verschwanden die Symptome.“ Quelle
Lebloser Held
Wilhelm Genazinos leblose Helden besitzen ein Beharrungsvermögen, das ich mit Robert Walser und seinen Mikrogrammen verbinde. Sie flüchten in die Eigenart, da eine Sicherheit vermutend. Jede Rettung verlängert die Bahn ihres Scheiterns. Lange waren sie Melancholiker, jetzt sind sie depressiv. Der amtierende Stellvertreter des räsonierenden Autors begreift sich selbst als „Streuner“. Gescheitert in drei Berufen, ist er seelisch obdachlos doch nicht von jeher. Ihm widerfährt der Verlust seiner Umgebung als etwas Vertrautem. Die Stadt, in der er in die Jahre kam und die man mit Frankfurt am Main richtig anspricht, entfremdet sich ihm in schmerzhaften Prozessen.
Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze. Roman, Hanser Verlag
In der Vermeidung von Schmerz lag die Lebensleistung der Erzähler älterer Geschichten von Genazino. Ihnen glückte manches auf den Wegen der Selbstverkleinerung und der Verhornung. Sie verödeten ihre Schmerzpunkte und überließen es anderen, tragisch oder dramatisch abzustürzen und aufzuschlagen. Sie klebten wie Schnecken an abschüssigen Strecken.
Das ist vorbei. Dem namenlosen Streuner fehlt die Kraft, sich zu bewahren. Ferner versagt er als Restwegbegleiter für die letzten Personen, die ihm einmal nahestanden. Er bietet ihnen keinen Trost. So leer seine Existenz auch sein mag: sie erlaubt es ihm nicht, sich anderen zuzuwenden.
Er kann sich aus den Fängen des Egoismus nicht befreien. Der sinnlose, an keinen Ehrgeiz gekoppelte Egoismus macht aus ihm einen Idioten. Auf einem Straßenfest trifft er seine ehemalige Ehefrau Sibylle. Er bemerkt zum ersten Mal, dass in ehemalig das Wort Ehe steckt. Das verleitet ihn zu Verirrungen, die seine Vorgänger in Genazinos Erzählkosmos oft hinreißend erscheinen ließen.
Er erkennt Sibylles Wunsch, auf den letzten Lebensmetern nicht allein zu sein. Das nimmt ein Wrack übel, das glaubt, nach wie vor die Wahl zu haben. Sibylle überwindet die Widerstände ihres Ex-Mannes mühelos. Sie versucht, ihn in der Gärtnerei ihres Vaters unterzubringen. Sie stattet ihn aus und unterläuft seinen Protest. Der Streuner liegt an der Leine ihrer Erwartungen und gewinnt seine schäbige Freiheit erst nach Sibylles finalem Ausscheiden zurück.
Genazino listet die Phänomene der Gleichgültigkeit auf, die Sibylles Tod begleiten. Der Streuner wendet sich Christa zu, die sich anspruchslos zeigt. Auch sie wird vom Schicksal angerempelt. Wieder versagt der Streuner als Helfer in der Not. Er verzieht sich in ein schwach durchblutetes Damals und sucht Anschluss in Erinnerungen an die Eltern. Der Vater war ein Versager, der seinen Größenwahn mit Bescheidenheit maskierte. Die Mutter war lange einverstanden mit dem Mann. Das bleibt Jahrzehnte später ein Rätsel. In den Erinnerungen taucht ein Verkaufsleiter auf, der von der Mutter intim bewirtet wurde. Der heranwachsende Streuner erkannte die Untreue und deckte sie vor dem Vater ab.