„Die DDR (hatte) eine katholische Struktur und die ... (erzwang) eine vatikanische Kulturpolitik." Heiner Müller
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„Das minimale Glücksversprechen ... das an keinen Trost sich verschachert." Adorno
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„(Sobald) ein Kunstwerk über uns Macht gewinnt“, gehen wir über uns hinaus und „leben ein fremdes Leben.“ Eduard von Keyserling
Sandkastenfreunde
Nachrichten aus dem Randgeschehen
Die Bar verbirgt sich vor Laufkundschaft. Keine Säuferampel zeigt sie an. Keine Tür geht vor ihr auf. Ich stehe schließlich vor einer verschlossenen Tür in einem Treppenhaus voller Kinderwagen und Fahrradgerümpel. Die Briefkästen auf einem Mosaik im Jugendstil wurden niedergemacht.
Ein Mann mit Dackel erscheint im Torbogen wie gerahmt. Er schnäuzt sich herausfordernd. Ich gehe in die Burleske, mein Befremden zurückhaltend wie einen ungebetenen Besucher.
„Hier soll es eine Bar geben.“
„Bestimmt nicht. Ich wohne seit vierzig Jahren im Haus … “
Die Auskunft klingt präziser als sie ist. Es gibt Hinterhöfe, Querschiffe und Seitenflügel. In diesem Augenblick stürmen zwei Aktivisten an mir und dem Mieter vorbei, ich folge ihnen aus einer Laune. Die Eiligen besteigen eine Paletten-Tribüne und klopfen an ein Fenster. Es geht auf, sie steigen ein. Ich steige hinterher. Sie drehen sich noch nicht mal nach mir um. Offenbar ist das der übliche Weg. Der Barmann stellt sofort klar, dass er mehr privat als im Dienst ist. Erst mal eine drehen und sich nach dem Befinden der Akkreditierten erkundigen.
Nachrichten aus dem Burggeschehen
König Kurts Sandkastenfreunde treten durch andere Türen ein als der fahle Rest. Ihr Feldlager ist das Raucherparadies aka Leichenschauraum. Die Kammer hat den Charme einer rumänischen Abtreibungsklinik. Viel steht da zur Verwirrung der Sinne, so wie die Büste eines tschechischen Präsidenten. Die Sandkastenfreunde sitzen vornehm an des Königs Tafel. Sogar Nasenschweiß muss sich drehen und winden, um auf seinem Platz zu bleiben. Er findet im Augenblick keine Beachtung. Ihr ganzes Leben haben die Sandkastenfreunde in Kurts Dunstkreis verbracht, erst im Kindergarten, dann in der Anstalt aka Musterschule und in einer Automatenbude an der Eckenheimer Landstraße. Nun stimmen sie Heldengesänge an. Jana bedient die Spießgesellen mit fabelhafter Heiterkeit. Sie ist unverwöhnt aufgewachsen, also abgehärtet. Der König umfasst sie bei Gelegenheit besitzanzeigend und summt Komm doch liebe Kleine, sei die Meine, sag nicht nein.
Die Sandkastenfreude respektieren das royale Vorrecht. Sie ist sakrosankt, da Kurt sie betatscht.
Winnie kreuzt auf. Früher war er das ganze Jahr in kurzen Hosen unterwegs. Damals, als im Veilchenhof noch ein Flipperautomat stand. Nach allgemeiner Auffassung ist die Burg Winnies letzte Station vor der Kompostierung. Er war bekannt dafür, sich mit allen zu überwerfen, solange er noch Kraft hatte, jetzt duckt er sich durch seine Schichten. Ist kein Haar in der Suppe, dann ist Winnie nicht in der Küche. Er hockt sich zur Mückenschar des nachrangigen Stammtischs, beglückt von jedem Gruß. Das sieht gruselig aus, ist aber auch nur ein Schicksal. Sogar Winnie kriegt sein Getränk beizeiten, als Gnadenakt, den der König beinah ohne gestischen und mimischen Aufwand veranlasst. Jana versteht ihn, als könnte sie Gedanken lesen. Oder eher noch, als gäbe es eine lautlose Kommunikationsebene, die Kurt und Jana synchronisiert.
In dem hybriden Bürgerkrieg, der in der Burg tobt, ist Jana auf Kurts Wohlwollen angewiesen. Dazu später mehr.
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Eine Apfelweinpresse aus vorelektrischer Zeit wird in die Burg geschafft. Fünf Männer wuchten an ihr herum, sie soll auf einen Vorsprung über dem Eingang. Nordend-Defender bestehen auf einen Bruch der Hausordnung, sie wollen Süßgespritzten, auch mit Cola süß gespritzt, also Korea. Und so wird ihnen eingeschenkt - und zwar wieder von Jana, obwohl man ihr eingebläut hat, dieses Sakrileg sich niemals zuschulden kommen zu lassen.
Doch sagte der König gerade gemütlich: „Gib ihnen, was sie wollen, das geht aufs Haus.“
Der König stärkt Jana den Rücken mit einem Klaps in aller Freundschaft.
Jemand beschwert sich wegen Lippenstift an einem Glasrand.
„So was darf nicht passieren“, sagt der König. In seinem Reich geht die Sonne nie auf. Da herrscht ein anderer Ton als im Gernegroß.
Es spricht der Burggeist
Es sind auch schon Gläser ungespült zurückgestellt worden. Dafür dürfen wir angezogen sein, wie wir wollen. Ich weiß, wie man die Musik zum Handkäs macht, ich habe auch schon mit Winnie zusammen in der Küche gearbeitet.
In Frankfurt geboren
So weit kommt es, dass Adorno einer Betrachtung eine Zeile von Friedrich Stoltze voranstellt:
„Ui, haww‘ ich gesacht.“
Stoltze kennt man auch deshalb: „Es is kaa Stadt uff der weite Welt, die so merr wie mei Frankfort gefällt, un es will merr net in mein Kopp enei, wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei.“
So zeigt Adorno, beinah beschämt, wie lieb ihm die Perle am Main ist. Bellevue hieß die Frankfurter Anschrift seiner Kindheit. Er stellt Hegel zu Hölderlin: „Wie in der Hegelschen Spekulation wird unterm Blick des Hölderlin‘schen Gedichts das geschichtlich Endliche zur Erscheinung des Absoluten.“
Hölderlin habe den Betrieb der Welt als Konferenzschaltung begriffen und überall „Korrespondenzen“ gesehen. Wieder bringt Adorno Hölderlin in Anschlag, um auf Heidegger anzulegen, der „ohne Organ für die kollektive Kraft (sei), welche geistige Individuation überhaupt erst hervorbringt.“
Adorno zieht ein demoliertes Weltvertrauen aus dem Klang. Sein Verhältnis zu Bloch bestimmt die Namensaura nicht zuletzt. „Dunkel wie ein Tor, gedämpft dröhnend wie ein Posaunenstoß“ - das gestattet sich Adorno, um eine Zuneigung deutlich zu machen. Er rückt „Das Prinzip Hoffnung“, das noch in meiner Generation wie ein Aphrodisiakum wirken sollte, in die Nähe jener Versprechen, die ihm „schweinsledern“ gebundene „mittelalterliche Bücher“ machten, solange er als Kind das magische Nostradamuswissen in verstaubten Wohnungswinkeln vermutete.
Bloch verhilft Adorno zu dem Gefühl, „hier sei die Philosophie dem Fluch des Offiziellen entronnen“.
Irgendwo erwähnt Adorno Heideggers Hölderlin-Deutung. Heidegger messe seinem Helden zwar „metaphysische Dignität“ zu, zeige sich aber dem „spezifisch Dichterisches (gegenüber) ... höchst gleichgültig“. Thomas Mann balanciert auf der Gegenschräge. Er begreift Sprache als musikalisches Bildgebungsverfahren.
„Was ich brauche“, erklärt Thomas Mann dem Überlegenen in einem Brief, „sind ein paar charakterisierende … Exaktheiten, die dem Leser ein … überzeugendes Bild geben“.
Thomas Mann lädt Adorno ein, mit ihm gemeinsam über etwas nachzudenken, dass allein Adorno zu denken vermag. Er fordert A. auf, ihm „ein oder das andere musikalische Merkmal zur Förderung der Illusion in die Hand zu geben“. Dem Schriftsteller schwebt „etwas Satanisch-Religiöses, Dämonisch-Frommes … und verbrecherisch Wirkendes“ vor.
Geistige Orgasmen
Sie verehren sich und sind verliebt in den Esprit des Anderen. Als Agenten des beharrenden Fortschritts daran gewöhnt, dass ihnen kaum je ein(e) Zeitgenoss:in das Wasser reichen kann, genießen sie es, in der Gegenwart eines Gleichgroßen klein beizugeben. Thomas Mann diskutiert mit dem Kongenialen Produktionsfragen, die in die Ziselierungen reichen. Der Meister leidet unter seinem Eskapismus. Ihn reitet ein Teufel der Montage. Nun rechtfertigt er sich vor einem, der das Problem begreift.
Zweifellos finden beide es anstößig, zu montieren. Das Verfahren rangiert dich neben der Eskamotage, ein Wort, das ich zuerst bei Adorno fand. Auch Kolportage ist nicht weit weg von Montage.
Ein Thomas Mann kolportiert und kollaboriert nicht. Der Mann kooperiert kaum je. Hat er nicht nötig. Das gleiche solistische Trimmdich-Programm auf einem Hochparcours der geistigen Überlegenheit absolviert selbstverständlich der ins Vertrauen gezogene Adorno.
Die im Fleisch vermiedene Geliebte
Thomas Mann „benutzt das Motiv … der im Fleisch vermiedenen … Geliebten“. Die freundlich-zupackende Übernahme und geistige Anleihe bezieht sich auf ein berühmtes Arrangement. Die noble Witwe Nadeschda Filaretowna von Meck verabredete mit dem Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski einst die Vermeidung des leiblichen Kontakts unter den vollen Segeln eines regen geistigen Austauschs.
„Damit begann eine fast 14-jährige Korrespondenz, in deren Verlauf 1204 Briefe gewechselt wurden. Ungewöhnlich war die einvernehmliche Abmachung, auf persönliche Begegnungen zu verzichten.“ Wikipedia
Die Spezialität im Verhältnis einer mäzenatisch großzügigen Muse zu einem Musiker deklariert Thomas Mann als „mythisch-vogelfreies Thema“. Im Weiteren weidet er Shakespeare aus. Er gesteht:
„An dem unverfrorenen Diebstahl-Charakter der Uebernahme (Originalschreibweise) ändert das wenig.“
Thomas Mann spricht von einer „früh geübten Art des höheren Abschreibens“. Er unterscheidet den wie Aas im Feld liegenden, zur Ausschlachtung sich förmlich selbst einladenden Gebrauchstextabfall (Abfall im Sinn von etwas fällt ab) von den Fällen, „wenn es sich bei der Aneignung um Materialien handelt, die selbst schon Geist sind“.