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2024-12-22 14:46:10, Jamal

„Schon allein der Anfang deiner Geschichte verzaubert mich. Ein wunderbar tiefer Text. Da hat dich die Muse geküsst. Ich hab ihn gleich nochmals gelesen.“ Irene W. auf story.one

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„Lieber Jamal, wunderbare Episoden, ich bin noch beschäftigt mit vielen Themen daraus, eine Schatzkiste - dankeschön! Ich freue mich, dass die Story1-Community auch langsam anfängt mehr zu kommentieren in Resonanz, du hast so kraftvoll wirkende Räume gestaltet. Ich bleibe da jetzt mal etwas im Hintergrund. Manchmal vergesse ich, dass wir uns nur lesend kennen, es ist, als ob wir uns auf einem langen Spaziergang unterhalten. Sinnliche Briefe zu schreiben ist etwas sehr kraftvoll Belebendes, ja. Eros in eine Wortform fließen lassen ist etwas Wunderschönes als Prozess." Musenzeit

Vergessenes Vermögen

Zur Abwechslung wurde gestern Nacht unter der königlichen Tafel geknobelt. Jetzt ist schon wieder Feierabend in der Burgschänke. König Kurt lässt sich über Frauen aus. Seine Beschreibungen klingen immer nach Pferdemarkt und Gebissanalyse. Jana widerspricht ihm lieber nicht, es ist sowieso alles nur Gedöns und egal. Gravierender scheint der schwelende Streit zwischen Nasenschweiß und dem König. Nasenschweiß hat seinem Kumpel aus der Pfalz einen Saumagen mitgebracht, und der König hat den Saumagen an Hinrichs Hund verfüttert. Es geht somit um den Saumagen als Identität und Daseinsausweis und in letzter Konsequenz um Nasenschweiß' Unterlegenheit im Gefüge der Welt. Kurt hat Robert Gernhardts Wort von der Saugwurst, die Nasenschweiß angeblich sei, wieder in Umlauf gebracht, bis zu den niedrigen Chargen, die sich an sich keine Witze über Chefs erlauben dürfen. Sogar Winnie unternahm einen Versuch, mit der Saugwurst auf Kosten des Gernegroß-Gründers Heiterkeit zu ernten. Nasenschweiß nannte ihn deshalb ein „subalternes Arschloch", als noch richtige Gäste seine Großartigkeit im Gernegroß einatmeten. Das waren Leute vom hessischen Rundfunk, auch eine Ansagerin namens Veronika Kreuzer, die sich zuerst an Nasenschweiß herangemacht hatte, bis ihr aufgegangen war, wer in der Wahrheit der Burg ansageberechtigt ist. Ausgerechnet Tine möchte zwischen Nasenschweiß und dem König vermitteln. Sie will auch den Schankraum mieten, für eine Verfilmung ihrer Lebensgeschichte.

„Wenn mich einer Saugwurst nennen und die Wurst aus meinem Dorf verschmähen würde", missioniert Hannes, „könnte der garantiert seinen Arsch sofort in den Ohren suchen."

Hannes changiert nicht und denkt nicht in Spiralen, die jeden Furz mit der Weltgeschichte verdrahten. Hannes versteht die Einlassung als Beweis seiner Freiheit. Zwar ist er der Mundschenk des Königs, aber doch auch ein Edelmann aus eigenem Recht.

In der Zwischenzeit kippt Jana einen Lütten allein im Schutz des halb verrammelten Sommerschalters. Jede Menge Kies liegt da noch unter Gerümpel in einer Zigarrenkiste. In ihrer Ahnungslosigkeit glaubt Jana, niemand außer ihr wüsste von diesem Schatz. Ein vergessenes Vermögen. Vermögen nach Janas Maßstäben und Bedürfnissen. Eine große Reise ließe sich damit finanzieren. 

Im Prinzip muss sie gleich wieder aufstehen, und noch liegt ihr Bett in weiter Ferne. Die Eingeschweißten am Stammtisch der Nachrangigen und Schmallippigen schreien nach Bier und Schnaps. Nur der König selbst, Nasenschweiß und sein Premiumpersonal residieren an der königlichen Tafel. Das liegt an der Eintracht. Sie hat ein Heimspiel, seine Sandkastenfreunde sind selbstverständlich im Stadion.

Die zweite Lebenshälfte kehrt die Lächerlichkeit der Männer nach außen, wie in lauter Überschriften. Wie sie das Glas zum Mund führen und eine Bestellung aufgeben. Wie sie vor Kollegen dastehen, falls sie welche haben. Sich eine Zigarette anzünden. Einem Auto hinterher sehen, oder einer Frau. Wie sie über Sport reden und über die Heldentaten ihrer Jugend. Die letzte Kirche, die sie von innen gesehen haben: wo war das? Überall steht: besetzt und vergeben: an Jüngere, Beständigere, Gescheitere. Sie wollen sich ausweisen, aber kein Mensch will die Ausweise sehen. Mit so einem verbringst du einen Abend in Bielefeld, er hat lange in München gelebt. Dann ist die Mutter gestorben, das heißt, ihm wurde gekündigt von seiner Frau. Jetzt und schon länger nimmt er mit einem zugigen Flur vorlieb ... 

Jana kommt von der Wasserkante, deshalb Lütte und nicht Kurzer. Wieder einmal kann sie sich nicht entschließen zuzugreifen und den Tresenschatz zu ihrer Beute zu machen. Den Avancen des Königs begegnet sie mit klassenbewusster Zurückhaltung. Und doch ist da auch noch etwas anderes. Ein stilles Entgegenkommen auf ihrer Seite und eine untypische Geduld auf der anderen Seite. Die doppelte Bereitschaft, an Erfahrungen und Vorurteilen vorbei zu agieren, obwohl man vorderhand nichts anderes sieht als männlich-plumpe Annäherungsversuche und die Fadenscheinigkeit der royalen Attitüde. Kurt wäre lieber etwas anderes geworden als Wirt. Nur widerwillig trat er in die Fußstapfen seines Vaters. Auch bedeutet ihm die Burg weniger als dem passionierten Publikum. Für Hannes ist die Burg der Weltnabel, während Kurt beinah lieber auf Gran Canaria im geerbten Ferienhaus leben würde.

Er vertraut auf die Wirkungen kleiner Herabsetzungen und konstanter Destabilisierungen. Sich selbst hält er für den Überlebenden einer Gehirnwäsche. Er will nicht, dass das Personal so klar sieht wie er. - Wie es abrutscht ins Dilemma. Für jede Sklavin und für jeden Sklaven steht die Falle bereit. Allgemein bezeichnet man das Fußvolk in der Burg als Galeerensklaven. Im Gegenzug verachten die Sklaven die Armleuchter auf der Bezahlseite. 

Noch in dieser Nacht will der König Jana ein Angebot machen, das sie nicht ausschlagen kann.