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2024-12-23 11:09:59, Jamal

Dein neues Paar mit Claire gefällt mir, es ist so ein unaufgeregter, detailverliebter Erzählfluss. Und dann plötzlich so eine Spannung..." Musenzeit

Musenzeit an Jamal

Lieber Jamal, guten Morgen. Heute war ich ungewöhnlich früh wach, diese Stunden sind feine inspirierte Zeit.

Ich freue mich schon auf die Fortsetzung der Lesereise durch deinen Texttraum. Wohin sich Hannes und die anderen im Glück so bewegen. Ich finde es herzwarm bezaubernd, wie du die Räume gestaltest und deine Figuren beschreibst. Danke für deinen Kommentar auf story1, es ist so auf den Punkt zutreffend, ich werde gleich darauf antworten.

Ich habe Marianne einen kurzen Liebesbrief schreiben lassen, sie nennt Rouven ihren Geliebten, wenn sie zärtlich miteinander Zeit verbringen, ohne die Yoga-Gruppe.

Marianne schreibt an Rouven

Geliebter, wie ich mich schon wieder nach dir sehne nach der kurzen Zeit, die du erst weg bist... hast du die Nacht draußen verbracht in deinem Retreat? Sitzt du unter einem der ausladenden Bäume dort, wo sich Wasser und Erde so unermüdlich küssen, mal sanft, mal stürmisch? Ich sehe dich glücklich vor mir. Jetzt, wo meine Tochter ruhig schläft, ist es wieder nur die Zeit für uns. Erinnerst du dich, diese Sommernächte, wenn die Haut noch nachglüht von der Tageshitze, unser Atem tief und warm und so wohlig überall in uns Spuren hinterlässt... Wie wir uns da begegneten. Immer wieder neu erlebten wir uns... Jetzt möchte ich dich. Spürst du? Wir sitzen nackt voreinander. Ich spüre deinen Herzschlag unter meiner Hand, die auf deiner nackten Brust liegt. Ich nehme deine Hand und lege sie sanft auf meinen Busen an mein Herz. Deine und meine Fingerspitzen. Wir fluten uns im Augenblick, in unserer innigen, zärtlichen Umarmung, bis uns unsere Lust unerwartet heftig, wie ein aufkommendes Wellenspiel ineinander treibt. Komm zu mir, zeigt dir meine Quelle, deine Lusttropfen fallen schon in meinen nassen Schoß. Wie jetzt deine Hände auf meinen Hüften liegen, während ich auf dir bewegt werde. Deine mich erregende, fordernder Lust, mit der du meine sprudelnde Tiefenströmung auslotest, mich hervorlockst in meiner Ganzheit. Glühend und körperflüssig wogen wir, und es wird wilder, lauter. Und wie ich mich bald nicht mehr halten möchte, loslasse und du mich doch fest und noch fester bei dir hältst und wir wellend aufbäumend und im Luststöhnen zusammen in der Ewigkeit landen und zitterselig in uns zurück sinken... Und unsere Haut tropfnass. Und dein entspanntes Gesicht leuchtet mir mit geschlossenen Augen entgegen. Dein und mein Lächeln, ein warmes Bad.

Jamal an Musenzeit

Liebe Musenzeit, guten Morgen. Mariannes Brief gefällt mir sehr gut, ich übernehme ihn und füge ihn gekennzeichnet ein. Marianne ist da glücklich, wo sie mit Rouen und Clara-Sophia lebt. Hannes existiert auf einem anderen Planeten. Er hat überhaupt kein Problem mit der Konstellation. Sein Leben spielt sich auf Frankfurter Schauplätzen wie in einem magischen Kreis ab. Er macht auch Yoga. Gestern hatte er zum ersten Mal das Gefühl, er könne Wasser greifen, ohne dass es ihm durch die Finger rinnt. Er weiß aber immer noch nicht, was Qi ist. Rouven sollte es wissen. Ein anderer Punkt. Was passiert eigentlich, wenn jemand auf deinen Tiefenströmungen navigieren kann und dich dann verlässt? Ich stelle mir wieder vor, dass du - wie bei den Marianne-Momenten - dich nur dafür hinsetzt und du das Spiel zwischen Frage und Antwort in dir beobachtest. Ich sage dir noch, was gerade in mir arbeitet und den Text antreibt. Ich möchte ‚hören', wie Ariane zu Hannes sagt: Du brauchst so wenig, um mich aufzulösen. Manchmal reicht ein Wort von dir oder eine Berührung, um mich überschwemmt zu fühlen. Du hast diese Macht über mich, aber gar kein besonderes Interesse daran. Das ist schrecklich, aber auch aufregend. 

Der Burggraf

Aus dem Randgeschehen

Claire erwacht gegen halbneun. Sie löst sich von Royce, ihrem Freund seit sechs Wochen. So weckt sie ihn. Mit geschlossenen Augen prüft sie ihre Empfindungen. Wieder gelangt Claire zu der Feststellung, dass sie den Mann liebt. Royce, 39, ist freier Journalist. Claire, 32, ist Lektorin. Das Paar kam sich zuerst bei einem Fest im Glauburgpark nah, das in einem Sturm endete. Drei Tage später beschloss es eine Familiengründung in absehbarer Zeit. Claire erlebt Royce als einen zuverlässigen und beständigen Mann. Royce erlebt Claire als eine selbständige, seine Ressourcen nicht mit Ansprüchen überfordernde Frau. Beide sehen sich als verhaltene Verbraucher. Beide halten sich und den anderen für intelligent und zurückhaltend. Bei Unstimmigkeiten sind bisher beide sofort bereit einzulenken.

Beide kommen sexuell auf ihre Kosten, auch an diesem Morgen. Sie missionieren sich, wie meistens. Royce bringt Claire zum Orgasmus. Er lässt sich das bestätigen, um ganz sicher zu sein, bevor er den eigenen Höhepunkt anstrebt. Claire vereitelt, dass sich Royce rasch von ihr abwendet. Sie hält den Mann fest, mit einem deutlichen Erlebnis ihrer eigenen Kraft.

Sie ist eine ganz helle Person, die Augenpartie wirkt wie leicht entzündet. Royce ist dunkel. Claire putzt sich auch abends die Zähne, Royce nicht. Er duscht zweimal am Tag, sie manchmal nur alle zwei Tage.

Sie hat keinen beruflichen Ehrgeiz, er schon. Sie ist ordentlicher als er. Seine Nachlässigkeit erstreckt sich auf seine Erscheinung. Er rasiert sich selten. Claire rasiert sich die Beine aber auch nur für ihn.

Wie an jedem Samstag in den letzten sechs Wochen, holt Royce die Sachen für ein ausgiebiges Frühstück. Er kauft im Penny an der Ecke zwischen Bergerstraße und Baumweg eingelegte Tomaten, Schwarzwälder Schinken, Pfeffersalami und Edamer. Vor der Kasse stehen arme Leute. Royce verbindet mit dem Supermarkt gute Erinnerungen an die Zeit, als er nah der Bergerstraße wohnte. Das war vor zehn Jahren. Die Zwischenzeit überblickt Royce mit dem Gefühl, wenig verkehrt gemacht zu haben. Wie an jedem Samstag ersteht er etwas für Claire. Das ist diesmal eine Delfinminiatur aus Ton, die in einem Teeladen angeboten wird. Er holt die Bildzeitung und die FAZ, mit dem ersten Anflug von Ärger an diesem Tag, weil in dem Kiosk eine umständliche Kundschaft keine zügige Geschäftsabwicklung zulässt. Ohne Kaufabsichten sieht sich Royce den Bio-für-alle-Supermarkt am Merianplatz an. Er amüsiert sich mit Zusätzen von Verdruss über das Publikum. Er kauft noch Brötchen und Croissants. Bei seiner Rückkehr in Claires Wohnung findet er die Freundin auf den Knien vor dem Klo. Sie schraubt die Klobrille fest und hat dafür auch das richtige Werkzeug, wie der Journalist in Royce feststellt.

Claire bemüht sich, ihre Maßnahme nicht als Staatsaktion erscheinen zu lassen. Sie vermutet bei Royce wenig handwerkliches Geschick, stört sich daran aber nicht. Sie freut sich über das Geschenk. Sie macht Kaffee. Den Tisch hat sie schon mit einem Service ihrer Großmutter gedeckt. (Claire findet das Geschirr himmlisch altmodisch.) Am Vorabend hatte Claire eine Stelle auf dem Tisch entdeckt, wo der Lack ab ist. Royce ging mit einer Bemerkung darüber hinweg. Sie daraufhin: „Du hast den Tisch auch nicht abgeschliffen, gestrichen und lackiert.“

Gleich fand sie, dass sie zu weit gegangen war. Royce entschuldigte sich grundlos.

Er breitet seinen Einkauf aus. Claire weiß, dass er so schnell wie möglich Bildzeitung lesen will. Er liest sie gründlicher als andere Tageszeitungen. Nur in den Spiegel kann sich Royce genauso vertiefen. Mit wenig Interesse sieht Claire die FAZ durch. Sie braucht keine Tageszeitung. Nachrichten nimmt sie sporadisch auf. Sie zerschneidet eine rote Paprika und legt Royce Stücke auf den Teller. Er garniert damit achtlos einen Brötchenbelag. Claire probiert die Salami pur und würde gern etwas zum Geschmack sagen. Das lässt sie. Sie erwägt, ob sich ein frühstückendes Paar nicht besser unterhalten sollte. Sie ist sicher, dass Royce darüber nicht nachdenkt. Seine Aufmerksamkeit für den Tratsch der Gesellschaft wäre ihr verständlicher, wenn er die Leute persönlich kennen würde, von denen berichtet wird. Ihr ist der Brustkrebs von Frau W. so gleichgültig wie Vs metrosexueller Verwandlung. Sie legt die FAZ zur Seite und wartet darauf, dass Royce sie wieder zur Kenntnis nimmt. Aber erst der Swing seines Telefons verändert die Situation. Nach dem Gespräch erklärt Royce, dass er mit einem Stammtisch-Spezi gesprochen hat, der ihn um drei in der Gaststätte Klaus erwartet. Vorher will Royce an seinen Rechner. Er schlägt vor, am Abend im Panoramabad schwimmen zu gehen, wenn das Becken hell erleuchtet ist. Claire ist einverstanden. Sie registriert Royce Eile vor ihrer Enttäuschung. Für ihn dauerte das Frühstück exakt so lang wie seine Bild-Lektüre. Claire merkt sich das als eine Eigenart, an die sie sich gewöhnen kann.

Um zwölf Uhr bricht Royce auf. Unverzüglich greift Claire zum Telefon. Sie spricht lange mit einer Freundin, die sie fast ihr Leben lang kennt. Sie ist in ihrer Geburtsstadt geblieben. Die Freundin hat sich gerade von ihrem Freund getrennt, dem Vater ihres Kindes. Nun sucht sie eine neue Wohnung. Sie klingt resolut und zukunftsfroh. Die Frauen verabreden ein gemeinsames Wochenende in Frankfurt. Sie wollen dazu noch eine Freundin aus ihrer gemeinsamen Kindheit einladen. Für Claire sind diese Freundschaften das Wichtigste überhaupt.

Sie gießt ihre Blumen. Sie hat länger auf dem Land als in einer Stadt gelebt und vermisst in Frankfurt einen eigenen Garten. Erik, ein Kollege ruft an, um mit Claire über einen merkwürdigen Fall zu sprechen. Ein Autor des Verlags hat eine Kollegin in seinem jüngsten Manuskript erkennbar dargestellt, mit denunzierenden Absichten. Erik nennt den Text ebenso brillant wie gemein. Er plädiert dafür, den Vorgang nicht an die große Glocke zu hängen, weil sonst das Buch gar nicht erscheinen müsste, um die gewünschte Wirkung zu haben. Claire hält es für möglich, dass ein Grund für Eriks Ausführlichkeit sein Interesse an ihr ist. Sie verspricht, sich Gedanken zu machen und ist erleichtert, als das Gespräch zu Ende ist. Ihre Gedanken bleiben an Erik hängen, diesem lebhaften Mann, der in seinen Romanen und Sexgeschichten wie in einer Familie aufzugehen scheint. Den Autor hat Claire kaum je gesehen, im Haus hält man ihn für unwichtig. Die denunzierte Kollegin gehört zu einem Kreis, der sich sektenhaft von der übrigen Belegschaft abgrenzt. Claire hat keine Idee, was sie an Stelle der Kollegin unternehmen würde.

Sie fährt mit dem Rad zum Stadtwald, um zu laufen. Während der Fahrt bedenkt sie ihre Beziehung zu Royce, ohne zu einem anderen Ergebnis zu kommen als am Morgen. Alles ist gut.

Der Samstagnachmittag ist kühl und verhangen. Außer den Unentwegten lockt er kaum einen in den Wald. Als Claire ihr Fahrrad am Goetheturm abstellt, stehen auf dem nächsten Parkplatz nur ein Dutzend Autos. Mühelos läuft Claire ihre Strecke - fünftausend Meter. Das kleine Erfolgserlebnis geht in der Empörung unter, die sich bei Claire einstellt, als sie entdeckt, dass ihr Fahrrad weg ist. Zuerst achtet Claire kaum auf den Mann, der sie anspricht, offenbar um zu erfahren, was los ist. Er bietet seine Unterstützung an. Claire lässt sich von ihm in einem Mercedes mitnehmen. Das Auto ist alt und wie ein Liebhaberstück gepflegt. Am Rückspiegel hängen zwei fingerhutgroße Bembel. Der Fahrer trägt einen Backenbart. Seine Frisur erinnert an den späten Elvisstil. Seine Korpulenz und der Bart lassen Claire an ein Walross denken. Er stellt sich als Burggraf vor. Claire möchte seine Bemühungen nicht ins Leere laufen lassen. Sie erkennt nichts anderes als Freundlichkeit bei dem Mann und eine Trägheit des Leibes, die Claire mit Harmlosigkeit gleichsetzt. Sie hört, was der Burggraf über Kriminalität in Frankfurt zu sagen hat. Er gibt sich rabiat: wie jeder Spießer, wenn es um Eigentumsdelikte geht, denkt Claire. Sie muss sich nur im Mercedes umschauen, um zu wissen, wie sehr der Burggraf an Dingen hängt. Man überquert den Main, befährt den Cityring. Der Verkehr ist rege an diesem späten Nachmittag wie sonst meistens auch. Claire bittet darum, an der Bergerstraße aussteigen zu dürfen. Der Burggraf soll sie nicht vor ihrer Haustür absetzen. Sie fängt schon mal an, sich zu bedanken.

An einem Tor zum Bethmann Park klumpen asiatische Touristen. Claire registriert Radfahrer auf dem Cityring, Leute mit Einkaufstaschen an einer Ampel, die der Burggraf bei Rot überfährt. Bevor Claire ihn darauf ansprechen kann, hört sie das Geräusch der Zentralverriegelung. Reflexhaft sucht ihre Hand den Türgriff. Claire ist vielmehr wütend als ängstlich. Der Burggraf öffnet die Klappe der Konsole zwischen den Sitzen und bringt in einer fliesenden Bewegung - die einem Fachmann den ausgebufften Combat-Schützen verraten würde - einen Revolver zum Vorschein, eine so kommt es Claire vor absurd langläufige Waffe. 

„Keine Angst“, sagt der Burggraf ernst wie ein Beerdigungsredner.