Freundliche Übernahme
„Du musst die Teller im Tiefbecken vorspülen", schreit Winnie in der Küche.
„Immer zuerst das Essen raus", schreit Hannes am Buffet, „die Drecksteller können warten."
„Du wirst doch wohl mit vier Tellern gehen können."
„Das dreckige Geschirr immer gleich mit reinbringen. Ich warte auch auf Gläser."
Tu, mach, hol, komm. Das geht auch schneller. Zwei mit, drei ohne und einmal mit extra scharfem Senf.
In ihrem Kraut ist zu viel Pfeffer.
Kann ich die Rindswurst mit Salat bekommen?
Es gibt Leute, die zum Handkäs Rotwein trinken.
Jemand will „einen Tisch bestellen".
„Bin ich Schreiner?" fragt Hannes. Die allabendlich finalen Maßnahmen der Bewirtung gehen ihm leicht von der Hand. Schon steht der große Bembel in der Kühlung beim Jägermeister vulgo Kommodenlack. Hannes mischt für Winnie helles mit dunklem Bier in einem Halbliterglas. Jana wischt die Tische. Der Joschka hätte nach Feierabend gern noch ein Schneegestöber. Mit seinenFishermen's Friend tagt er über Gebühr an der Elf. Winnie sucht im Abfall nach Resten für die Garnitur. Er nimmt das vertrocknete Brot für die Pferde. Er serviert selbst. Der Grüne greift gleich nach der Gurkenscheibe aus der Tonne.
„Nennst du das sauber?" fragt der König angesichts eines Aschenbechers, der nicht dreckiger ist als Burgaschenbecher im Allgemeinen. Erst gestern hat er von Jana verlangt, mit Aschenbechern keinen Aufwand zu treiben.
„Die Aschenbecher werden ab sofort richtig geputzt", ordnet er an.
Hannes bespricht die Anrufbeantworter der Lieferanten. Mit dem König trinkt er nebenbei Sole-Sombre. Es wird ständig angestoßen. Immer in die Augen. Niemals über Kreuz. König Kurt aka der liebe Gott kürzt Fingernägel im Schankraum. Er kann ganz schön leger sein.
„So ist das Leben", sagt er. Die Korona stimmt zu. Wo käme man sonst auch hin? Schließlich beliefert Wotan, wie zuvor sein Vater, die Burg mit Kopfsalat, Karotten und Kartoffeln, um jetzt nicht von den Schalotten anzufangen. Schmuddel bringt seine Bratwürste und Blutbad-Hans seinen spanischen Kram bei Kurt an den Mann. PP könnte mit seinem Büttelgehalt seinen großen Durst nicht finanzieren. Schmuddel wäre in Frankfurt erledigt, würde manches ruchbar. Cosmo steht mit seinem bürgerlichen Namen auf Kurts Liste. Der freischaffende Klempner und passionierte Schwarzarbeiter Fleischwolf hat jeden Auftrag nötig.
An einem anderen Tag
Hannes sitzt im Strandkorb, wie die Bank neben dem Buffet der Gaststätte Klaus genannt wird, und guckt Cosmo Caruso auf die Finger. Was ihr noch nicht wisst: König Kurt hat den Tiger gegen die Wand geknallt und im Gegenzug die Gaststätte Klaus an der Bornemann Avenue (vormals Glauburgstraße) übernommen. Nach den Begriffen der Eingeschweißten war das eine freundliche Übernahme. Unfreundliche Übernahmen sind mitunter warme Renovierungen.
Die Gaststätte Klaus ist ein Greisengarten. Das Durchschnittsalter der Gäste liegt bei siebzig. Einer zählt auf, was man zum Sportkegeln alles braucht. Einer erstaunt mit dem Wort Artikulationsfitness. Einem fällt ein, dass die Pretty Things vor einem halben Jahrhundert als ernstzunehmende Konkurrenten der Rolling Stones galten. Um seine Runde in Rage zu bringen, erhebt einer das Glas auf General Vogel von Falkenstein, der am 16. Juli 1866, von Hanau kommend,die freie Reichsstadt Frankfurt am Main einnahm. Seine Kontributionsforderungen trieben Bürgermeister Victor Fellner in den Freitod.
Ob Drogengeld die Eigentumsverhältnisse in der Stadt dauerhaft veränderte hat? Steinalte Rocker haben nie die Schlagkraft der amerikanischen Militärpolizei vergessen. Auf der Strecke geblieben ist mancher. Ob Freund oder Feind spielt schon keine Rolle mehr.
Jedes Wochenende rollte MP Sachsenhausen auf. Es gab keine Verhandlungen und keine Unterscheidungen. Die MP kam, sah und drosch. Sie fiel ein und schlug zu, bis wieder Ruhe im Karton herrschte.
Viele versuchten, unsolide klarzukommen. Warum nicht einen Laden aufmachen, in dem Sex und Geld zusammenkommt?
Immer mal wieder eine betrunkene Verwechslung von Masse und Kraft.
„Wenn hundertzehn Kilo in Wallung kommen."
„Nur Schweine trinken alleine."
Der alte Ferdinand Klaus, einst der älteste amtierende Frankfurter Wirt und inzwischen jenseits der hundert, zittert am Rollator. Zu Hannes sagt er: „Der Apfel fällt nicht weit vom Birnenbaum. Dein Vater war ein bürgerlicher Lümmel und das bist du auch."
Er wendet sich an Cosmo: „Und du, mein Sohn, wirst dich unterstehen, auch nur scharf in meine Richtung zu gucken. Sonst kriegst du im Nordend kein Bein mehr auf den Boden. Ich war schon im Metier*, als dein Vater für einen Groschen Botengänge gemacht hat. Zu der Zeit hatte ich mit deinem Opa einen Stammtisch. Nur, dass wir uns richtig verstehen."
*Metier: altes Wort für Business. Kriminelle Machenschaften galten als gewöhnliche Berufstätigkeit. Man konnte sich darin auszeichnen. Man stieg auf- und ab wie der Angestellte in einer Bank.
„Wir rechnen in der Burgschenke ab", sagt Hannes zu Cosmo, da die Zeit gekommen ist. „Dann kommst du früher heim."
Hannes stellt sich Cosmos Zuhause ungemütlich vor. Er stört die Servicekraft, während sie den Umsatz feststellt. Denisa verrechnet sich dreimal.
„Immer mit der Ruhe", sagt Hannes.
Denisa kämpft mit Wörtern. Sie klaubt den Ramsch der Gegenwart auf. Ein Faulatem der Trägheit bläht ihre Rede. Ihre Feststellungen verstecken die Frage, wieso in ihrem Leben alle Türen klemmen.
Sie preist sich an und glaubt sich kein Wort.
Sie kocht Eintöpfe für Umzüge und hält die Freiwilligen bei Laune.
„Männer, gleich habt ihr es geschafft."
An tödlich erschöpften Hausfrauen vorbei: räumt Denisa Geschirr in neue Schränke.
Denisa ist unentbehrlich. In späten Runden wird ihr Frühdienstgesicht übersehen. Die letzten Gäste wachsen an der Theke fest. Sie haben alle Verpflichtungen des nächsten Tages so weit verschoben, dass erst einmal nichts anliegt. Nichts liegt ihnen ferner, als sich zu beeilen. Jeder Aufbruch zieht Entrüstung nach sich. Immer schaut noch jemand vorbei, der allen bestens bekannt ist und heftig aufgenommen wird.
Was bei den späten Vögeln herausspringt, landet Brutto für Netto in Cosmos Kippe. Denisa steckt das Hannes, sie weiß selbst nicht wieso.
*
Es gab eine Zeit, da geschah das Wunder der Verschonung in einem Weiler an der Mulde. Sechs Familien überlebten eine Seuche.
Das Wunder verstockte die Wunderweiler. Abgewanderte kamen nie mehr. Zurückgebliebene behielten sie als Abtrünnige im Gedächtnis. Sie nannten alles belanglos, was nicht ihrs war. Die Kollektivierung der Landwirtschaft änderte wenig. Von Widerspruch war nie die Rede.
Denisa ist eine Wunderweilerin. Sie traktiert Cosmo mit Geständnissen.
„Ich fand mich hässlich."
Nie fände Cosmo im Wunderweiler Aufnahme. Für Präzedenzfälle sorgten Durchfahrene und Neusiedler. Als Denisa ihre Verhältnisse schon bis zu größeren Gemeinden gefestigt hatte, kam es einmal soweit, dass ein Klavierspieler aus der Hauptstadt sie heimbringen wollte, in einem besonderen Auto. Denisa ließ sich vor dem Ortseingang absetzen, sie wollte in dem Auto nicht gesehen werden. Der besser gestellte Vater einer Freundin trieb Aufwand beim Sonntagsfrühstück. Dann ging er mit einem Kurschatten durch. Das gab Denisa zu denken: wie dieser Mann seine Familie im Stich gelassen hatte.
Das Leninzitat auf einer Urkunde, die Denisas Mutter „für gutes Wissen" erhielt: Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben.
Kaum reicht die Zeit, um eimerweise Kartoffeln zu schälen, die Schränke auszuwaschen, die Kühltruhen abzutauen und all das auszusortieren, was im täglichen Umlauf nach unten und hinten geschoben wird, bis über alle Verfallsdaten hinaus. Denisa holt Dreck aus den Ecken. Sie poliert Beschläge. Sie findet Reklameschilder von 1900 und anderen Kram in Kellern und auf dem Dachboden. Sie schmückt damit den Schankraum. Cosmo belächelt schläfrig den Eifer. Er bietet Denisa seinen Joint an.
Der Betrüger kommt nachts in die Burg. Cosmo fürchtet Kurts harmlose Bemerkungen. Er darf sich nicht den Schneid abkaufen lassen.
„Bist du gern der Arsch?" fragt König Kurt gleichgültig.
Es ist wieder um drei, die Eingeweihten trinken eiskalten Mesa Mayor und La Calzada. Nobel geht die Welt zugrunde. Unpassende Gläser und falsche Aussprache sind Pflicht in der Burg. Rioja hieß Riotscha. Der König trinkt Riotscha aus seinem persönlichen Gerippten* (mit Goldrand).
*Apfelweinglas
„Wie meinst du das?" fragt Cosmo. Er war mal ein fixer Junge, immer kühl und immer mit den richtigen Leuten auf Tuchfühlung. Früh am Zocken und mit achtzehn gleich ein großes Auto. Der Mumm hielt nicht vor.
„Ich meine gar nichts. Ich habs nicht nötig, was zu meinen."
Selig sind die geistig Armen.
Hannes weiß Bescheid. Wegen ihm kann Cosmo ruhig im Dunklen tappen. Cosmo folgt Hannes in die Burgküche. Ein Fisch kocht vor sich hin. Ein Wildschweinschinken wartet darauf, in Scheiben geschnitten zu werden. Einem Ziegenkäse ist das schon passiert.
Die Burgküche ist eine Waffenkammer. Mit der Sauerkrautgabel kann man jederzeit jemanden abstechen.
Überfluss ist ohne Gewalt nicht zu haben. Sie wird ständig ausgeübt und scheint legal. Ihre Rechtlichkeit ergibt sich aus den Eigentumsverhältnissen. Jeder Angriff auf den Reichtum ist verboten. Cosmo versucht behutsam, ein Thema daraus zu machen. Er wundert sich, wie schnell er verstanden wird.
„Du stehst hoffentlich auf der richtigen Seite."
„Ist es nicht so, dass der König alle in den Schatten stellt."
„Die Brosamen auf seinem Tisch sind nahrhafter als anderswo ein ganzer Laib."
„Für dich vielleicht, für mich ist das zu viel Folklore."
So reden Nordend Defender, um viel zu verschweigen.
Hannes angelt den Fisch; privat isst man in der Burg von jeher nicht à la carte. Er rührt Erbsen und Zwiebeln zu einem Schaum. Er ahmt den König in seinen Bewegungen nach. Das entgeht Cosmo nicht. Ihr fragt euch, warum der König den Betrüger nicht kurzerhand hinrichten lässt. Der König sagt: Man kann jeden Mann gewinnbringend einsetzen. Wenn du die Kuh schlachtest, kannst du sie nicht mehr melken.
Kurt sieht in seiner Küche nach seinen Rechten. Leute, die ein Vermögen mit derbem Essen gemacht haben, kultivieren nach Feierabend mediterrane und asiatische Küche; raffiniert mariniert, meinetwegen auf der Teriyaki-Schiene.
An einem anderen Tag
Cosmo sucht das Gespräch mit dem schwulen Rentnerpaar im Partnerlook. Mit Interesse und Verständnis unterstützt es eine Verrückte, die jeden wie ihren Vormund anspricht, und den Briefträger, dessen kleinbürgerliche Fassade seit Jahren stündlich zusammenzubrechen droht. Die neue Pächterin ist eine alte Bekannte. Inge, 47, erscheint unangetastet wie eine Abiturientin. Sie sieht bourgeois aus, ist aber voll Volk.
Auf dem Messeplatz steht ein Riesenrad. Cosmo möchte es mit bloßen Händen in Schwung bringen. Im Ostpark machen Schwäne Jagd auf Hunde. Die alten Frauen aus dem Riederwald sind alle noch am Leben. Cosmo erweitert den Kreis an einem Wasserhäuschen.