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2024-12-24 21:27:42, Jamal

„Farne sind älter als Mann und Frau, älter als Recht und Unrecht. Sie sind geschlechtslos und haben weder Samen noch Blüten." Rachel Cusk

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„Mittelmäßige ... verdienen nichts Besseres als Unsterblichkeit." Gary Shteyngart

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„Es gibt viele Könige auf der Welt, aber nur einen Michelangelo." Pietro Aretino

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„Der Bettler (im Mittelalter) war arm und auf Almosen angewiesen – aber seine soziale Stellung war nicht mangelhaft, es fehlte ihm an nichts." Anna Mayr

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„Da saß ich mit Mitte dreißig als Mutter von vier Kindern und hatte noch nie einen Orgasmus." Julia Haart

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„In der Renaissance ... (bedeutete) Talent dasselbe wie Vielseitigkeit." Egon Friedell

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„Als der Mailänder Francesco Sforza einen Triumphbogen errichten ließ, erklärte der Ehrenmann: ‚Das sind abergläubische Installationen für Könige, aber ich bin ein Sforza.'" Egon Friedell

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Zu Beginn des 15. Jahrhunderts karikieren drei gleichzeitig regierende Päpste das christliche Weltbild. Die Anarchie von oben beseitigt die Sicherungen und Stabilisatoren der Herrschaft. Sie zerstört die Grundlagen der mittelalterlichen Gesellschaft. Die ritterliche Gefolgschaft verliert ihre grandiose Dimension. Die Leibeigenschaft verliert ihre bindende Kraft für die Leibeigenen. Das Patriziat verliert seine Schranken- und Sperrfunktion. Egon Friedell zitiert in seiner „Geschichte der Neuzeit" Petrarcas Beschreibung des päpstlichen Hofes in Avignon: „Alles Gute ist dort untergegangen ... je befleckter ein Leben ist, desto höher wird es geschätzt, und der Ruhm wächst mit dem Verbrechen." 

Cosmo Caruso

Wir wissen es nicht genau - träumt Cosmo Caruso oder befindet er sich auf einem Trip in die Zukunft.

Auszeit. Larissa akzeptiert die Spielregeln zu meiner Beruhigung. Nach dem Mittagessen ziehe ich mich zur Selbstbefriedigung aufs Klo zurück. Vermutlich wird es auch überwacht. Leicht verjüngt und schlanker als in Wirklichkeit lasse ich Larissa in meinem inneren Theater auftreten. Sie ist eine alleinerziehende Mutter auf dem Weg nach unten und ich habe ihr einen Job und eine Wohnung gegeben. Ich notiere die Episode mit der Hoffnung, dass Larissa entgegenkommend darauf reagiert.

Ich esse allein zu Abend und während ich eine Gurke ihrer Länge nach zerschneide, kommt mir der absurde Humor des alten Mannes in den Sinn ... seine Art, Leute an der Nase herumzuführen. Ich erzähle dem Priester davon, der sich so einfindet, als sei er am Vorabend zum letzten Mal da gewesen.

Als junger Mann spielte der alte Mann Querflöte, das habe ich, glaube ich, noch nicht erzählt. Die archaisch-mythische Schraffur eines Charakters lässt sich nicht wie ein Mantel einfach ausbreiten. Der alte Mann behauptet, dass man mit Gewalt immer zu weit geht. Sie zu befehlen, nennt er den schwersten Dienst an seiner Sache. Er führt den Dschihad in Europa an.

Solang er in der Legalität war, suchten Regierungen das Gespräch mit dem alten Mann. Er verhandelte mit Dolmetschern, obwohl er drei europäische Sprachen soweit beherrscht, um dem Gang einer Unterhaltung folgen zu können. Er verrätselte sein Verhalten mit sinnlosen Unterbrechungen. Er besprach sich selten. Die Männer, die als seine Vertrauten hingestellt wurden, waren malerisch kostümierte Pappkameraden. Die sah man dann an seiner Seite auf den Bildschirmen.

Der alte Mann ist bewandert in westlicher Philosophie.

Die Erinnerungsarbeit findet in der zwölften Etage statt. Ich bin so belebt von Larissa, dass ich ein passendes Thema wähle. Der alte Mann unterhält Beziehungen zu Europäerinnen. Manche Verhältnisse währen Jahre. ...

Das trug ich Kate zu. Ich hatte sie dem alten Mann vorgestellt und ihn später vor ihr herabgesetzt, indem ich von seiner trägen Verdauung anfing. Sie nannte mich einen Angeber. Ihre formatlose Aggressivität zuzeiten ... eine wegwerfende Art mir gegenüber. Ihre Frivolität.

Ich fand mich überwältigend im Vergleich mit dieser Hockgesellschaft, die dem alten Mann auf den Leim kriecht. Selbst seine Genickbrecher sind bloß hypertrophe Bauern, die Karate für raffiniert halten.

„Könnte Kate eine Odaleske des alten Mannes sein?" fragt Larissa.

Ich sage erbittert wie eh und je, wenn es um Kate geht: „Solche Konstellationen strebt der alte Mann an."

Kate als seine Zuträgerin ... verlässlich wie nie, wenn es mich betraf. Seine Art, Sex zu haben. Ich erzählte Kate davon, nach einem Madonnakonzert im Madison Square Garden. Sie regte sich auf, weil ich kein Taxi auftreiben konnte. Zu der Zeit pflegte sie den Audrey-Heburn-Chic, mit Kopftuch und einer dunklen Brille, die sie in der Öffentlichkeit selten abnahm ... mit der Erklärung, empfindliche Augen zu haben.

Ich stelle mir den alten Mann in Kates Gesellschaft vor. Kate sitzt außerhalb seiner Reichweite und unterhält ihn mit einer Fickgeschichte. Sie zeigt dem alten Mann ihre Zunge. Weiter komme ich nicht. Die Szene erfriert wie ein hyperrealistisch abgemaltes Standfoto.

Santiago in der TV-Werbung.

Abends frage ich den Priester nach seinen Wegen im Haus und dem Gang der Dinge in der Welt. Er antwortet mir wie einem, für den das alles nicht mehr erheblich ist. Als betrachtete er diese Etage als die letzte Station meines Lebens. Sein Blick geht über mich hinweg, so gleichgültig wie über Gräber.

Manchmal kommt es mir so vor, als folgte meine Versorgung und Überwachung einem Automatismus, der aus Gedankenlosigkeit in Kraft bleibt.

Mit einer Magnetkarte lässt sich die verschlossene Tür am Ende des Korridors öffnen. In der Bewacherkammer steht ein Radio. Manche Bewacher kommen mit einer Zeitung auf die Etage.

Ich möchte mich einmal wieder betrinken. Falls ich aus dem Haus komme, fang ich wieder an zu rauchen.

Nachts sehe ich einen Film, bis zu einer Stelle, die mit meinem häuslichen Programm erotisch in Übereinstimmung zu bringen ist. Sie zeigt einen Hausmeister im Anbahnungsgespräch mit einer Hausfrau. Die Frau scheint ganz debil vor Freude darüber, gleich von ihren öden Verrichtungen abgehalten zu werden. Ich nehme die Rolle des Hausmeisters ein. Ich ersetze die Frau im Film mit einer Frau, die im Haus für Ordnung sorgt. In meiner Phantasie kann ich einfach über sie verfügen, so wie Santiago über alle. Unsere Körper greifen logisch ineinander. Ich entferne mich soweit von der Wirklichkeit, dass mein Nervensystem dem Eskapismus die Gefolgschaft verweigert. Ich bringe die unscharfe Einsicht zu Papier, meine Erinnerungsbearbeiterinnen sollen ihre Freude daran haben. Jetzt kann ich schlafen, während sich auf dem Bildschirm vor meinem Bett das Leben wälzt.

Ein Vergnügen an aufgebrühtem Kaffee. Das große Glück, eine Bildzeitung in die Finger zu kriegen ... inzwischen auch ein christliches Kampfblatt. Die Kolumne auf Seite 2 schreibt ein Mann, der vor mir mit Kate in engster Verbindung stand. Angeblich hatte er publizistisch die Stadt in der Tasche, machte dann aber weiter keine Schwierigkeiten. Kate servierte ihn so ab, dass er sich für einen Tölpel halten musste.

In jeder Gruppe fällt einer mit parodistischem Talent auf. Bei den Wärtern auf meiner Etage gibt ein Schwarzer den Clown. Eben hat er geschickt einen Kreuzlahmen nachgeahmt.

Mit manchen Wärtern wird die achte Etage zum toten Trakt.

Auf mein gescheitertes Erregungsprotokoll reagiert Larissa wie erwartet. Ich betrachte das Kreuz im Delta ihres Dekolletés.

Larissa lenkt die Erinnerungsarbeit auf Merkwürdigkeiten im Alltag des alten Mannes. Ich erkenne an ihren Fragen, dass sie einen anderen Text mit meinen Aussagen vergleicht. Vielleicht haben die Kreuzritter einen wichtigen Ligamann festgesetzt, der gerade im Keller vernommen wird.

Ich wünsche mir ein Kälteerlebnis. Ich möchte mal wieder frierend im Freien stehen.

Zum Mittagessen wird mir der Kopf eines Kaninchens serviert, ein kleiner rattiger Totenschädel neben Kartoffeln und Gemüse. Ich verstehe die Botschaft nicht.

Der Priester kommt spät und ist damit zufrieden, auf einem Stuhl zu dösen. Ich habe ihm nichts zu sagen.

Nachts werde ich in den Saal gerufen. Er ist mit Fackeln erleuchtet. Wie zu Gericht sitzen Ritter auf einem Podium. Ein Büttel zwingt mich auf die Knie.

„Cosmo Caruso", sagt einer, „sieh mich an."

Ich sehe einen Mann, der sein Kreuz auf dem hessischen Löwenwappen trägt. Er kommt mir im flackernden Licht nicht bekannter vor als die übrigen.

„Mein Name ist Selkirk Barrenboyne Burroughs. Meine Familie trägt die Farben dieses Landes seit achthundert Jahren ... seit ein Enkel der heiligen Elisabeth Kassel zu seiner Hauptstadt gemacht hat. Sie war schon vorher vornehm. Da gehörte das Chattenland noch zum fränkischen Reich und der heidnische Feind stand in Sachsen. Meine Familie hat sich, wie ein Baum mit seinen Ästen, ausgestreckt, aber verwurzelt ist sie hier."

„Das gilt auch für mich und für meine Familie", fällt der Mann zu Rechten des urhessischen Ritters ein. „Ich bin Rouven von Zierenberg. Die Kreuzfahrer unter meinen Vorfahren trugen diesen Namen bis nach Jerusalem."

„Ich bin auf einem Weg der Läuterung", sage ich. „Santiago selbst hat mich unter seinen Schutz gestellt."

„Gut, dass du von ihm anfängst", sagt Rouven von Zierenberg. „Ich zeige dir, was von ihm übrig geblieben ist."

Der Ritter greift neben sich und hebt Santiagos Kopf am Schopf hoch. Er schleudert ihn mir entgegen, mit einem schönen Schwung.

Der Kopf fällt so, dass er, unter gewissen Umständen, ebenso meiner sein könnte.

„Das zu Santiago."

Eine Gesellschaft drängt in den Saal, wie ich sie zerzauster nie sah. Sie setzt sich zusammen aus Ganz- und Halbentblößten, die sich mit Riemen züchtigen. Ich entdecke Wärter und Ermittler in fiebriger Erregung. Diese Flagellanten sind glücklich. Larissa ist unter ihnen. Ich fühle mich von ihr angezogen.