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2024-12-25 14:58:20, Jamal

Auszeit vor dem Fernseher

Wir wissen es nicht genau - träumt Cosmo Caruso oder befindet er sich auf einem Trip in die Zukunft.

Ich nehme eine Auszeit vor dem Fernseher. Ich darf alles sehen außer Nachrichten. Am Nachmittag bringt man mich in die vierzehnte Etage. Sie gleicht der zwölften.

„Liebe, Wahrheit, Verrat“, sagt Larissa, „waren für dich schon wichtige Wörter, bevor du bei dem alten Mann angelangtest. Aber, um dich ganz als Mensch zu fühlen, mussten sie noch mehr Bedeutung bekommen. Du hattest deine Zweifel und du wolltest, dass sie jemand ausräumt.“

Ich glaubte unbefangen an die Liebe und zu Verrat sah ich mich außerstande. Nichts schien mir billiger als die Wahrheit.

Ich war jung. Der alte Mann war schon damals alt. Mit seinen Frauen, Kindern und Leibwächtern bevölkerte er eine Villa in Düsseldorf, erbaut nach den Vorstellungen eines rheinischen Industriellen vor hundertfünfzig Jahren.

Ich bin auf eine absurde Weise mit dem alten Mann verwandt … einer aus seinem Stamm und trotzdem seinen Verhältnissen vom ersten Tag meines Lebens an entfremdet von einer anderen Kultur.

Ich glich den Recken in Burroughs‘ Gefolge, als ich zum alten Mann kam. Mir war bis dahin nicht viel gelungen, darüber wurde hinweggesehen.

In manchen Ländern bezeichnet man junge Männer als verrückt-blütig. Mir gefielen die Gebärden der Gelassenheit, mit denen alle Vorfälle quittiert wurden, die ich gegen mich anführte, um meine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Nach den Vorstellungen des alten Mannes kann man ein Leben nur im Dienst seiner Sache vollenden. Für ihn gibt es keine individuellen Lösungen, nur private Wege des Scheiterns. Sie ad finitum zu beschreiten, bedeutet, von seiner Mutter umsonst in die Welt getragen worden zu sein. Das wiegt schwerer als Raub und Mord vor einer Läuterung.

Ich hatte nichts Schwerwiegendes getan. Das stand mir bevor.

Ich stelle mir vor, wie Larissa Elektroden an meinem Körper appliziert.

„Der alte Mann wird dieses Land nicht verlassen“, sage ich, einer wiederkehrenden Eingebung gehorchend. „Er fühlt sich hier sicher und zugleich fühlt er hier seinen Mut.“ Ich stelle mir seinen Kopf im Maul eines ausgestopften Löwen vor.

Obwohl ich mich oft so geäußert habe, arbeitet Larissa mit mir daran, bis zu einer alpinen Stelle, an der ich den alten Mann als Greisin getarnt in einer Almhütte vermute. Hitler, Heidegger, Mengele: alle Assoziationen an der Peripherie sind negativ. Ich bin dabei, im Jagdverband der Kreuzritter aufzugehen.

Der Priester erscheint zum Abendessen. Er bespricht mit mir, was es heißt, Dinge zu tun, ohne ihre Bedeutung anzuerkennen.

„Man wird empfänglich für Verrat“, sage ich wie jeder ordentliche Schüler. Ich verbessere mich: „Man wird gleichgültig.“

Ich spiele mit dem Priester. Wir setzen eine Währung ein, die nicht mehr in Umlauf ist. Ich verschulde mich mit einem irren Betrag.

Fast mein ganzes Leben habe ich untätig verbracht, mit einer Sorglosigkeit, auf die ich stolz war. Die Sorglosigkeit ist dahin, obwohl mein Leben nichts mehr wert ist.

Ein Emissär kommt nach dem Frühstück. Beflissen wie ein Konfektionsschneider, erfragt er Einzelheiten der Identität, die ich annehmen möchte. Mir schwebt ein Leben als Amerikaner in Europa vor. Ich möchte mich in Italien niederlassen … in einer Industriestadt wie Turin, als ein Mann des Mittelstandes.

Wie in einer perfekten Organisation alles zusammenspielt. Für mein künftiges Leben schlägt Larissa mir eine Frau als Fassade und Leibwache vor. Ich bin gleich einverstanden. Die Erinnerungsarbeit findet in meinem Wohnzimmer statt. Die Wände sind braun. Ich weiß nicht, welcher psychologischen Einsicht die Farbgebung folgt.

Larissa enthält mir ihre Empfindungen nicht vor. Wir haben etwas füreinander übrig. Mir gefällt ihre festhaltende Intelligenz.

„Du hast zuerst die Wahrheit aufgegeben“, sagt Larissa, „ohne zu ahnen, dass du damit dich aufgibst.“

„Die Wahrheit des alten Mannes war niemals meine“, entgegne ich.

„Er hat dich erhoben und du hast ihn betrogen.“

„Ich habe ein bisschen was abgezweigt.“

„Du hast sein Vertrauen missbraucht.“

„Der alte Mann vertraut keinem. Er rechnet mit Schwund. Für ihn geht es um das Große und Ganze.“

Betrug, Verrat … jahrelang handelte ich aus Liebe. Als sich die Auseinandersetzungen zwischen der Liga und den christlichen Verbänden schon so zugespitzt hatten, dass sie in den Nachrichten ständig vorkamen, war ich immer noch nur damit beschäftigt, Kate bei Laune zu halten. In ihrer Gegenwart darf man nicht gähnen. Ich hatte vor den Schergen des alten Mannes weniger Angst als vor ihrer Langeweile.

Sie hielt es für mein größtes Glück, für mich erreichbar zu sein. Sie höhlte mich aus.

Vielleicht ertrug ich ihre Kälte deshalb so lang, weil ich wusste, dass sie gern anders wäre als sie ist: weniger egoistisch, weniger ängstlich, schwerer affizierbar von den Möglichkeiten eines potenten Mannes.

Sie ist zu Hingabe fähig. Sie sucht Stärke. Sie hat ein gemeines Verhältnis zur Kraft.

Ich sah mich als Kapitän auf einem Narrenluxusliner. Kate erklärte das Schiff zum Kahn.

… die Gewissheit, von ihr nie geliebt worden zu sein, um das schwerwiegender zu finden als die zivilisatorische Initialzündung in dem Land zwischen Euphrat und Tigris. Dicle heißt Tigris auf Türkisch.

„Du wärst in jeder Partei ein unsicherer Kantonist“, sagt Larissa.

Ich bin ein Mann des Privatlebens. Einer, der vormittags gern darüber nachdenkt, wie ein schöner Abend verlaufen könnte. Kate mochte schöne Abende sehr.

 

Ich esse allein zu Mittag. Ich bestelle Wein und kriege Wasser. „Gut so“, sage ich, „der Wein taugt eh nichts.“

Der Wärter könnte zu den Geläuterten gehören. Ich will auf den Korridor, er stellt sich mir entgegen. Ich warte darauf, gerufen zu werden. Die Zeit wird mir lang, ich sehe Zeichentrickfilme und fühle mich dabei bis zu den Zehen wie ein schwer interessierter Halbwüchsiger. Ich notiere die Empfindung als Zeichen meines guten Willens.

 

Am Nachmittag führt mich ein Wärter in den Keller. Ich war da nicht mehr, seit den schweren Verhören. Die Angst erzeugt Taubheit in den Gliedern. Eine Schneewanderung mit meinen Eltern kommt mir in den Sinn.

 „Wo waren wir stehen geblieben?“ fragt ein Ermittler, den ich noch nie gesehen habe.

„Ich erinnere mich genau: Sie interessierten sich für meinen Beistand während meiner Untergrundzeit.“

Es setzt Schläge, die mein Gesicht treffen, den Rumpf und den Nacken. Sie werden mit einem elastischen Gegenstand geführt. Ich klassifiziere die Aktion als milde Bestrafung. Gleich wird jemand das Blut abwischen.

Der Priester bleibt aus. Der Fernseher lässt sich nicht einschalten. Nachts führt mich ein Wärter zu einem Saal. Er ist wie für einen festlichen Anlass herrichtet. Ein Abschlussball könnte darin stattfinden. In einem Bogengang bemerke ich drei Männer. Zwei liegen ramponiert auf den Knien. Ich zweifle nicht daran, dass im Saal mehr Menschen sind. Ich wittere Bewegungen an seinen dunklen Rändern. Der aufrechte Mann fragt, ob ich die knienden Männer kenne. Mit brennendem Hass sehen sie mich an. Sie spucken aus und fluchen. Sie regen sich furchtbar auf. Ich bin der Höllenhund.

„Mir sind ihre Namen nicht bekannt“, sage ich so pompös wie möglich. Der Kreuzritter ist furchtbar angewidert von den Asseln auf dem Weg ins Paradies. Er tritt sie. Er lädt mich ein, an einem Blutbad teilzunehmen. Meine so genannten Glaubensbrüder verfluchen mich, bis sie tot sind.

Hell empört nennt der Ritter die Zahl der Toten auf seiner Seite an diesem Tag.

Man bringt mich in ein Kaminzimmer. Diese Nacht eröffnet mir lauter neue Ansichten des Hauses. So wie der Saal, könnte das Kaminzimmer in einem Schloss sein. Männer in Ordensgewändern erwarten mich an einer Tafel. Ich bekomme einen Schemel als Sitzplatz. Ein Büttel mit einem Knüppel steht mir zur Seite.

Die Ritter werfen ihre Namen in den Raum, gewichtig gemacht von den Adelsprädikaten. Ich lag am Strand von Malibu, als mir ein Agent der Liga zum ersten Mal von diesem Komitee erzählte. Unterdessen rieb ich Kate Öl in die Haut. Meine Sonnenbrille rutschte über den Nasenrücken. Ich lachte über die christlichen Spinner, der Agent lachte mit und Kate regte sich unter meinen Händen. Ich bestellte Getränke. Ein so genannter Glaubensbruder trug sie durch den Sand. Lange sah der Krieg so für mich aus.

Ich rechne mit einer Befragung, bis ich erkenne, dass man mich geholt hat, um an einem Schauspiel mitzuwirken. Ich bin der Unwürdigste im Haus. Das qualifiziert mich an erster Stelle zur Herabsetzung eines Ermittlers, der an einem Strick herangeführt wird.

Der Ermittler steht vor der Tafel und nennt seine Verfehlungen. Er bezichtigt sich energisch. Ihm wird schließlich befohlen meine Füße zu waschen. Das Nötige steht bereit.

 

Mit gewaschenen Füßen werde ich in den Keller gebracht. Der Zellentrakt ist aufgeräumt und solide wie eine amerikanische Einrichtung. Als gäbe es auch hier eine Aufsicht, die mit Amnesty kooperiert. Ich beatme mein Zwerchfell und verschließe die Augen vor dem Chaos meiner Eindrücke.

Mein Gefängnisfrühstück lässt nichts zu wünschen übrig. Man hält mich zu hygienischen Maßnahmen an. Eine Spezialistin für Alexandertechnik trägt zu meiner Entspannung bei. Im Verlauf des Vormittags nehme ich Eintragungen vor. Ich setze ein paar Beteuerungen hinzu.

Larissa leistet mir Gesellschaft am Mittagstisch. Unter den gegebenen Umständen ist ihre Gegenwart besonders anregend. Sie gibt zu verstehen, dass ich mich zu den Vorgängen in der vergangenen Nacht nicht äußern soll. Ich ahne (weiß Gott zum ersten Mal) ihre Zuneigung.

Wir setzen die Erinnerungsarbeit fort.

Ich bin eingeschlossen. Niemand denkt daran, mich zu unterhalten. Ich schreibe die Titel von Liedern auf, die mir etwas bedeuten. Meine Mutter war als junge Frau mit berühmten Musikern gut bekannt. Sie erzählte von legendären Konzerten. Mit dem Abstand vieler Jahre deute ich ihre Erzählungen als Groupie-Schoten. Für meinen Vater gab sie ihre fahrige Existenz auf.

Ich wollte ein Mann sein, für den eine Frau die Richtung ihres Lebens ändert. Das muss mir meine Mutter nahegelegt haben. Mit ihren Freundinnen bildete sie einen Kreis reizender Mütter. Jetzt sehe ich ihren Ehrgeiz.

Kates Art der Ermutigung: Ich seh´s gern, wenn dir etwas gelingt. Mit dieser Variante: Ich seh´s gern, wenn einem etwas gelingt.

Mit einem Achselzucken: Frauen sind nun mal empfänglich dafür (für männlichen Erfolg).

Ich langweile mich beim Abendbrot.

Jeder Versuch, mit einem Wärter Kontakt aufzunehmen, scheitert.

Das Licht in meiner Zelle brennt die ganze Nacht. Ich bemerke daran ein Interesse an meiner Person.

An diesem Tag bleibt die Erinnerungsarbeit allein mir überlassen. Ich verstehe, dass ein Tag im Haus ohne Larissa für mich keine Gestalt annimmt. Ich bin nicht in der Lage mich zu konzentrieren. Ich registriere erste Anzeichen der Verwahrlosung.

Eine gewisse Renitenz setzt der Angst zu. Ich komme über Selbstbeobachtungen nicht hinaus.

Ich bin wieder in der achten Etage. Burroughs wirbt auf dem Bildschirm für eine Süßigkeit. Er ist enorm telegen.

Man schneidet mir die Haare.

Am Nachmittag sieht ein Zahnarzt nach mir. Er äußert sich abfällig. Der Doktor sieht so aus, als habe er die schwarzen Pocken überlebt … und seine Instrumente auch schon zur Folter eingesetzt.