MenuMENU

zurück

2024-12-25 17:57:23, Jamal

Phase der Neuorientierung

Wir wissen es nicht genau - träumt Cosmo Caruso oder befindet er sich auf einem Trip in die Zukunft.

Die Dinge nehmen ihren Lauf wie an jedem Tag. Ich habe schon gefrühstückt.

„Du bist süß“, sagt Larissa.

„Interessiert sich noch jemand für den alten Mann?“ frage ich.

„Dies ist eine Phase der Neuordnung“, entgegnet Larissa gesetzter als ich es von ihr gewohnt bin.

„Ich glaube nicht, dass mich die neuen Herren am Leben lassen werden.“

Larissa bedeutet mir, dass ich mich zu diesem Thema nicht äußern soll. Sie scheint mir auf eine Weise gewogen zu sein, die für sie fatal sein könnte. Ich verstehe, dass meine Erinnerungsarbeit keinen Sinn mehr hat.

Larissa fragt: „Wann hast du aufgehört, Künstler zu sein?“

„Als mir klar wurde, dass Kate für mich wichtiger war als meine Arbeit.“

„Deshalb bist du zu dem alten Mann gegangen.“

„Ich wäre zu jedem gegangen, der mir eine imponierende Fassade in Aussicht gestellt hätte.

„Du hast Kate in T. aus den Augen verloren“, sagt Larissa zur Einweisung in die Erinnerungsspur am Nachmittag des 23. Dezembers.

Ich hatte in T. eine Wohnung zu präparieren, für einen Vollstrecker, der, wie ich, in zwei Welten (auf die gleichgültigste Weise) zuhause war. Ihm stand der Sinn danach, Angst zu verbreiten. Das hielt er für eine Aufgabe. Wir waren uns in Hamburg und Miami schon begegnet, der Vollstrecker reiste mit der Legende eines Physikstudenten. Ich musste ihm in seiner öden Art, die Zeit tot zu schlagen, folgen. Er beschickte Automaten mit Geld, spielte Billard. Zu jeder Zeit konnte er auf der Stelle einschlafen. Ständig vom Jetlag geplagt, beneidete ich ihn darum.

Ich weiß nicht, ob er in T. abtauchen sollte oder in Vorbereitung einer Aktion dort erwartet wurde. Ich erinnere ein paar langweilige Tage in der ranzigen Atmosphäre einer nahöstlichen Altstadt, die ich mit Vorbereitungen allein verbrachte. Mir war schwindlig vor Glück, als Kate sich ankündigte. Ich organisierte Alkohol in einem Hotel und besorgte ein Bett, das durch keine Tür passte. Ich ließ es mit einer Winde durch ein Fenster drehen.

Ich kam in einem neuen Anzug zum Flughafen. Kate hätte auch größeren Aufwand selbstverständlich gefunden. Sie kann aus einem Gang zum Klo eine Schau machen. Wenn ihr danach ist, schaut sie dich an, als wärst du der einzige Mann auf der Welt. Du küsst besorgt ihre Füße, und sie sagt: „Mach dir keine Gedanken. Du weißt, dass ich dich liebe.“

Wir hatten einen schönen Abend in einem Straßencafé, das mich an ein afrikanisches Lokal im Frankfurter Bahnhofsviertel erinnerte. Der Vollstrecker kündigte sich nachts für den nächsten Tag an, Kat war unzufrieden, weil uns so wenig Zeit zu zweit blieb. Ich hatte schon eine Menge Geld gebunkert und unterrichtete Kat vorsorglich davon. Sie sollte sich sicher fühlen.

Am nächsten Abend aßen wir zu dritt im Hilton. Ich renommierte mit meiner Künstlervergangenheit, die so großartig nicht gewesen war. Ich hatte es zu ein paar Ausstellungen gebracht und zu einem halben Dutzend Preise. Einmal war ich Artist of the Month eines Kunstmagazins. Bei der Preisverleihung war Kate dabei. Man hatte uns im besten Hotel am Platz untergebracht, in der richtigen Umgebung für das Gebet, das Kate an mich richtete. Damals erhörte ich sie und sie war Feuer und Flamme.

Kate hatte noch zwei, drei Liebhaber aufzugeben. Die Trennungsgespräche überlieferte sie als ermüdende Angelegenheiten.

Ihr Wunsch, mir ganz und gar anzugehören, war mir zuerst unheimlich. Sie ehrte mich als Sieger, als den Mann, der seine Vorgänger blass aussehen ließ. (Sie setzte sich selbst als ersten Preis ein.) Nach meinen Begriffen hatte ich nichts dafür und nichts dagegen getan.

Als ich Kates Untreue zum ersten Mal für möglich hielt, war ich schon so dicht an dem alten Mann, dass sein Geld durch meine Hände floss. Ich hätte die Finger davonlassen sollen.

Kate könnte den alten Mann so informiert haben wie ich sie. Er zeigte sich mir stets auf die gleiche Weise.

Mir wären irgendwann von Ligaleuten die Fingernägel abgezogen worden, hätte der Vollstrecker weniger Eindruck auf Kate gemacht. Vor meinen Augen erregte er sie, ohne sie auch nur einmal zu berühren.

In der Nacht lag Kate unruhig neben mir. Ich fing ein Gespräch an, sie sagte: „Willst du, dass ich mit zusammengebissenen Zähnen neben dir liege.“ Sie hatte diese Formulierung schon einmal gebraucht, um mir zu schmeicheln: „Ich lag mit zusammengebissenen Zähnen neben ihm und dachte an dich.“ Sie wehrte sich gegen mich: „Du willst nur deinen Samen loswerden.“ Ich zitierte sie mit einer Bemerkung, die allenfalls zwei Wochen alt war: „Ich mach‘s dir schön, ich mach‘s dir immer wieder, ich mach‘s dir so oft du willst, weil ich dich liebe. Weil ich dich so sehr liebe.“ In der nächsten Nacht schrie Kate unter dem Vollstrecker. Kopflos packte ich meine Sachen. Ich kehrte erst gar nicht zum alten Mann zurück. Bald erkannte ich, dass die Jagd auf mich eröffnet war. Ich verkroch mich, bis Santiagos Männer mich aus einem Loch zogen, in dem ich anderenfalls wahrscheinlich erfroren wäre.

Ich werde ins Erdgeschoss gerufen, das ist noch nicht vorgekommen. An der Fahrstuhltür erwartet mich ein Wärter. In seinem Mantel erinnert er mich an eine Aufnahme meines Großvaters aus dem Jahr 1940.

Ich frage ihn, ob er zu den Geläuterten gehört.

„So wie viele im Haus“, entgegnet der Wärter, dunkel vor Schwermut. „Die Herren haben meinen Bruder von Doggen zerreißen lassen. Manchmal denke ich, er hat das glücklichere Ende gehabt.“

Zu meinem Erstaunen gibt es neutralen Publikumsverkehr im Foyer, das mit kreuzritterlicher Monumentaldarstellungen prunkt. Menschen bewegen sich ungezwungen im Raum wie in einem Shopping Mall. Eine überlebensgroße Stahlskulptur verherrlicht den ersten Führer der Kreuzritter des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Eine Leuchtschrift verlangt: „Lest die Bibel.“

Larissa kreuzt auf, zurechtgemacht wie ein Wintersportkatalogmodell. Sie hakt sich bei mir ein, als wäre das selbstverständlich. Der Wärter wendet sich grußlos ab.

„Der hat jetzt Feierabend“, sagt Larissa. Die Harmlosigkeit dieser Bemerkung erschüttert mich.

Vor der Tür ist alles weiß von Schnee. Frankfurt steckt in einem Eisblock. Die Kälte macht den Leuten Gesichter, als erwarteten sie ihre Überführung in einen Gulag. In dieser Arktis sehe ich Bettler, Versehrte, verlumpte Kinderhorden … Nonnen und Priester in grauen Gewändern. Ein paar prächtig Gekleidete ziehen voreinander große Hüte.

Militärfahrzeuge auf den Straßen. Der zivile Autoverkehr scheint für immer zum Erliegen gekommen sein.

Religiöse Aufläufe an allen Ecken. Ekstatische Aktionen mit Gesang und den Knien im Dreck. Auch in Einzelakten wird die Gnade des Herrn herbei gefleht.

Die Innenstadt ist voller Buden. Die alten Kaufhäuser sind innerer Einkehr vorbehalten. An einem offenen Ausschank bietet ein Geächteter, von einem Fußeisen verlangsamt, heißen Apfelwein an. Ihm geht eine Frau zur Hand, die ein Brandmal auf der Stirn trägt. Sie humpelt und buckelt wie die Hexe im Märchen. Ich frage Larissa, was es mit den Leuten auf sich hat.

„Sie haben den öffentlichen Frieden gestört. Manchen fällt es schwer, sich an die neue Ordnung zu gewöhnen.“

Wieder frage ich mich, warum man mich am Leben lässt.

*

Larissa hält Vollwertkost für unentbehrlich. Sie isst ständig und redet darüber. Ich bringe für ihr Programm weder Verständnis noch Interesse auf.

Sie ist überhaupt nicht abwartend. In unserer ersten gemeinsamen Nacht hat sie einen explosionsartigen Orgasmus, der auch als Mordszene durchgehen könnte. Hemmungslos sagt sie den Fick-mich-stoß-mich-Text auf. (Sie verblüfft mich mit dem Ausdruck: aber holla.) Larissa versteht ihren Überschwang auch als exorzistische Übung. Angeblich brauche ich eine Frau, die „die das Haus zusammen schreien kann.“

Sie urteilt bedenkenlos. Sie reißt mich hin mit dieser Formulierung: „Denk doch mal nur an dich.“

Zurzeit wollen alle richtig kraulen können. Man schwimmt im Hilton und unterhält sich mit einem Ex-Champion wie mit einem persönlichen Bademeister. Larissas Held heißt Bob und ist Buddhist. Ein paar Spitzentitel hat er knapp verfehlt. Larissa spielt mit dem Tölpel am Beckenrand Blinde Kuh. Sie trägt einen weißen Einteiler, der ihre Schokoladenmädchenhaftigkeit betont. Ihren Teint hält sie für russisch. Eine ihrer Großmütter hatte was mit einem Rotarmisten, wie freiwillig, weiß man nicht.

Larissa krault schon passabel. Mir reicht es, ich gehe duschen.

Im Mantel sieht Bob umwerfend aus. Sein Kreuz ist so breit, dass man seine Arme unwillkürlich für gewaltig hält. Wie ein Schwarzenegger steht er an der Hotelbar neben Larissa. Sie lässt ihn esoterische Pfauenräder schlagen. Bob möchte immer noch durch die Tür, die William Blake zu einem Gedicht veranlasste, das die Doors zu ihrem Namen machten, in einer Ära, als der Zeitgeist Patschuli auftrug. Wie viele taube Nüsse ist Bob auf Transzendenz aus.

Bobs enormer Körper macht aus seinem geringen Status etwas Schwerwiegendes. Larissa sagt ihm, dass er gehen muss. Aber er hatte seine Zeit, Larissas Vorstellung von jedem das seine entsprechend.

„Du kannst bestimmen, was wir unternehmen“, sagt sie.

Am Tag hängt eine Wehmutsschleppe. Zum Schluss zeigt er sich aber noch einmal von seiner besten Seite. Er lässt Wind aufkommen und verschickt damit Botschaften an die Bäume im Huthpark. Sie bestätigen den Empfang. Auch die Wiesen werden ins Bild gesetzt. Sie scheinen jedem dankbar zu sein, der sie betritt. Das letzte Licht meldet sich wie ein Verspäteter. Von ihm ist nicht mehr viel zu erwarten, aber man hatte auch genug, mit seinem Eis in der Hand, den Picknickresten im Bauchnabel, den Geräuschen der Kinder und dem Gebaren der pünktlich Verliebten.

Wir essen in der Seckbacher Krone, und ich versuche bei Larissa einen Heiterkeitserfolg zu erzielen, indem ich zum hundertsten Mal feststelle, das in dem Gasthaus auf der anderen Straßenseite nur Touristen verkehren.

„Du bist die Frau meines Lebens“, sage ich im Auto auf der Friedberger Landstraße, und Larissa entgegnet: „Ich will das nicht hören.“

Ich sage die Namen der Brücken über dem Main auf.

„Ich möchte allein sein“, sagt Larissa.

„Kann ich noch mal anrufen?“

„Du kannst es versuchen.“

Ich fahre sie vor die Haustür und als ich Anstalten mache, auszusteigen, hält sie mich mit einem Wimpernschlag davon ab. Larissa steht ein Register der Bestimmtheit zur Verfügung, das stets so wirkt, als würde sie sich nur einer Zumutung bittend entziehen.

Ich kenne schon jetzt Larissas letzten Satz für mich. Er lautet: „Ich kann nichts mehr für dich tun.“