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2024-12-25 19:09:19, Jamal

Mutwillige Mundart - Aus Hannes‘ Aufzeichnungen

Manchmal hätte ich gern etwas, dass man morgens auf und abends zuschließen kann, so was wie einen Kiosk oder einen Gemüseladen voll tanzender Mäuse und Fäulnisgerüchen in den Ecken, aus denen der Besen nie alles herauskehrt. Ich wäre dann einverstanden mit der kleinsten Münze, einem Abendessen in dem Stehding der Herren B & C und einer schwachen Dosis Baldrian aprés. Nach all den Räuschen, der Angeberei, dem auftrumpfenden Gerede. Nachdem so viel zu nichts geworden ist.

Ich möchte welke Blätter von Salatköpfen zupfen und von einem Salat sagen: „Den stach man aus Oberräder Erde“, mit einer Betonung der Silben, die jedem Hessen Vertrauen einflößt. Der Mutwille, der in der Mundart liegt. Ein Ausweis der redlichen Beständigkeit wäre ich an meinem Platz.

Ein Lokal bietet „Getränke zu vernünftigen Preisen“. Solche Anpreisungen sind neu. Bald wird es wieder Schlangen vor Suppenküchen geben.

Jemand sagt: Jesus ist nicht lächelnd aus der Welt gegangen.

Man lässt ständig Höflichkeit walten. Sie gleicht einem städtischen Geruch. Der Städter muss sich über seine Affekte hinwegsetzen. Eine permanente Rosskur.

*

Said war mal Vertreter für Zigaretten. Er wirkt so halbseiden wie eine Schieberfigur aus dem amerikanischen Nachkriegskino. Er fühlt sich innerlich verbrannt. Notgedrungen lässt er inzwischen andere für sich rauchen. Sein linkes Hüftgelenk macht ihm zu schaffen. Angeblich wurde es ewig falsch belastet. Die Knie sind auch hin, sogar gleichermaßen. Kein Schritt ohne Schmerzen. Geld scheffeln zum Trost. Seine neuste Geliebte gibt ein Gastspiel in seinem Büro. Ich registriere ihr unfreies Benehmen mir gegenüber; so wie ich Saids Freude am Geldzählen im Anschlag der Additionsmaschine vernehme.

Manchmal zerfallen städtische Phänomene so, dass dem Betrachter ein Spaltprodukt seiner Erwartungen ins Auge fällt, in dem die Tatsachen verfehlt werden. Mir ging es so mit zwei Kiosken, die an der Eckenheimer Landstraße in zwillingsgleicher Eintracht nebeneinander zu existieren scheinen. Tatsächlich entspricht die Konstellation dem Ergebnis eines Streits.

In einem Bornheimer Innenhof wird Apfelsaft ausgeschenkt, man kann auch Pampelmusensaft bekommen. Es müsste außerdem Wein geben, um die Szene nach vertrauten Maßstäben als komplettes Programm mit Kultur zu erleben. Sachgerecht ausgeleuchtet hängen Bilder in einem Gartenhaus. Verzuckertes Fachwerk und chagallistisches Zeug.

Ich sehe eine unserer lebenden Burgleichen. Ich nenne ihn den Profiler. Er hat sich so zu Recht gemacht, dass er in seinem Aufzug vor zwanzig Jahren noch mit den lockeren Vögeln in ein Gespräch gekommen wäre ... woher und wohin, also aus Kathmandu nach Gelsenkirchen zu einem Festival mit den Scherben.

Ich vermute Gries in den Ritzen seines Leibes.

Er beobachtet mich, reglos wie ein Reptil. Ich fühle mich von seinem Blick verdaut.

*

Seit einer Weile kommt er mir entgegen, zwei, drei Mal in jeder Woche. Ich sehe ihn schneller werden. Er trägt vage Siege davon gegen Läufer, die es wissen wollen. Diese Zufallswettkämpfe haben ihre eigenen Geräusche, tief fliegende Vogelschwärme hören sich so an. Ich finde ein Wort dafür: Geschwaderlärm. Ich empfinde die Duelle als Herabsetzung der kleinen solistischen Anstrengungen, die andere sich abverlangten, ohne ihr Maß einer Gelegenheit auszuliefern. Ihnen scheint ein Verhalten angebracht, das sich nicht zu sehr abhebt vom Wesen der Spaziergänger. Ich genieße einen Ausblick auf die Hochhäuser am Main und bedenke die wechselnden Eindrücke in den tieferen Lagen des Parks. Die Nacht schließt ihn von seiner Umgebung ab. Meine Wohnung liegt vor seinem oberen Tor. Ich ziehe die Laufschuhe vor der Haustür aus. Man kann von diesem Haus aus in die Kanalisation steigen und trockenen Fußes nach Bockenheim latschen.

Das Paar im zweiten Stock gießt die Blumen im Treppenhaus mit Spirituosen und lässt Gläser auf den Stufen stehen. Mit stupider Unentwegtheit ist es einem Vergnügungsbegriff verpflichtet, für den es keine Umgebung mehr gibt. Die Agenturen sind pleite. Aldifrohsinn macht sich breit. In den Wohnungen geschieht mehr als früher … auch mehr Fürchterliches. Eine verlassene Nachbarin hat sich mit dem Föhn in die Wanne gesetzt, ein vor die Tür Gesetzter blieb dort tagelang sitzen. Dann brachte ihn eine bei sich unter, das veranlasste ihre Vorgängerin zu Attacken. Kein Mensch verlangt Mäßigung, wenn nachts getobt wird. Die Kämpfe im Haus beanspruchen mich. Ich flankiere meine Wege mit Vorsichtsmaßnahmen. Auch tagsüber gehe ich nicht mehr unbewaffnet aus.

Der Kabulmann verkauft Fleisch in seinem Kiosk. Er ist sehr beliebt bei Rentnerinnen, denen er mit Niedrigpreisen entgegen kommt. Wer sich mit ihm gut stellt, hat davon was. Er kann alles besorgen … Videorekorder und Duschvorhänge … und alles regeln.

Er ist der Mann der Stunde, grau, undurchsichtig und leisetreterisch. Mit Tee bewirtet er auch den Sportler - in der Urban-Survivel-Kluft, die sich bei kleinen Leuten mit einem weiten Horizont durchgesetzt hat - der im Glauburgpark gegen meine Laufrichtung immer schneller wird. Der Sportler ist Hausmeister. Ein Gerücht weiß von seiner Vergangenheit als Söldner auf dem Balkan. Zur Steigerung meines „subjektiven Sicherheitsempfindens“ empfiehlt er eine Schusswaffe. Großes Nachbarschaftsgefühl.

Ariane will mich nicht sehen. Mit diesen Worten: „Ich bin so verschlossen.“ An ihre Stimmungen gewöhnt, nehme ich ihr Separationsbedürfnis wie das Wetter. Nach ein paar Tagen die erste Lockerung. Wir ziehen in Bornheim um die Häuser. Sie lotst mich in einen Hauseingang, legt meine Hände an ihren Arsch und sagt: „Fick mich.“

Ariane über ihre Vorgängerinnen: „Ich will nicht so enden wie sie.“ Über eine Kollegin: „Sie plant ihr Unglück.“ Über einen Bekannten: „Er ist geil darauf, chice Sachen zu sagen.“

Ariane zu mir an einem Sonntagnachmittag: „Du hast es zwei Mal gehabt“ … als hätte sie eine Stechuhr im Leib. Sie fahndet im Journal Frankfurt nach Zerstreuungsadressen. Im Taxi fahren wir zur Kommunikationsfabrik in der Schmidtstraße. Wir kehren in der Cantina auf der Gutleutstraße ein … irgendwer aus Leipzig legt auf. Auf einer Party im Gallusviertel fängt uns ein psychodelisches Fluidum auf einem Duftpolster aus Ampfer und Moschus ein. Die Spiegel im Raum sind mit Tüchern halb verdeckt. Ariane bringt das in einen exotischen Zusammenhang mit Jugendfotos von mir.

Ariane im Gespräch mit einem osteuropäerischen Kunstbuchhändler, der sein Geschäft in der Domstraße führt. Er scheint benommen vor schlagartiger Zuneigung.

Ariane lässt sich anstrahlen.

Nach einem Abend in Mainz bedankt sich Ariane für den schönen Abend. Ich hatte den Wein nach der Farbe ausgewählt, daran will sie sich immer erinnern. Meine Empfindungen nehmen die Farben der Stadt an.

Gehen wir ein Stück, schweigen wir.

Dieser Gastgeberin gefällt es, ihre Gäste zu verwirren. Sie bringt Berufstätige mit Arbeitslosen und Erfolgreichen mit Versagern zusammen, und es dauert eine Weile, bis die einen entdeckt haben, dass die anderen als eine Art unschöner Dekoration gedacht sind, wie Plastiktiere im Schaufenster eines Frisörs.

„Dann riss ihm der Kackfaden für immer“, sagt der König über einen soeben verstorbenen Wirt mit Paten-Patina. Ich habe euch ja immer noch nicht von den wüsten Frankfurter Zeiten erzählt, als unsere Altvorderen mit Colts ihren Stadtteil regierten.  

Ariane war in Krakau bei einer Freundin aus ihrer Schulzeit, die mit dem Mann eine Familie gegründet hat, der vor fünfzehn Jahren ihr Freund geworden ist. Diese Beständigkeit ließ Larissa wehmütig werden. Sie hat die Wehmut nach Frankfurt mitgebracht und so wie sie bei Eddie auf dem Sofa am Fenster sitzt und Sekt mit Aperol trinkt, wirkt sie ganz erschlagen von Verlustempfindungen.  

Ich sitze neben Ariane auf einem Brett über der Heizung (in der Havanna Bar an der Schwanenstraße). Der Nachthimmel stellt sich als Verlängerung des Kneipenhimmels dar. Die Bedienung räumt mit einer Kippe zwischen den Lippen ab. Nach einer Stunde Gymnastik ist der Star des Abends in der Lage, den emotionalen Haushalt des Publikums bis zum Deckenlicht aufzufüllen. Das ist sein Geschäft. Die Lieder werden ohne Ansage gebracht: als Essenz dessen, was im Verlauf von Jahrzehnten hingehauen hat. Nelson Algren könnte ihn im Zanzibar erlebt haben, begleitet von seiner französischen Geliebten Simone de Beauvoir, die alles, was sie mit dem Amerikaner in Chicago tat, Sartre weitererzählte … immer schön in der Höflichkeitsform. Jemand streicht mit Gratis-Jameson durch das Lokal. Lazy findet Ariane die Leute an den Tischen ...  „die sind alle so lazy.“

Wir folgen einer Spur, die Leute legen, indem sie Wirtschaften links liegen lassen, um anderen den Vorzug zu geben. Angelockt von der Gloriole eines Wasserhäuschens nehmen wir das Kopfsteinpflaster einer Sackgasse unter unsere Sohlen. Ich sortiere die Effekte. Auf Werkzeug und Gepäck wie auf Gewehrläufe gestützt, warten verbrauchte Männer vor einem Hotel, das Splendid Isolation heißt. Sie sehen so aus, als hätten sie ihr Schicksal vergeblich zu zwingen versucht. Eine Frau bittet Ariane um Feuer. Sie legt ihre Hände über Arianes Hände, die zum Schutz gegen den Wind zu einem Kreis über der Flamme geformt sind. Sie zögert das Ende der Berührung hinaus. Mit einem Zeichen des Bedauerns gleitet sie endlich vorbei.

Zwei Euro kostet der Wein in einer arabischen Bude. Schön ist die Bedienung mit dem braunen Gesicht. In ihren Bewegungen: bezwungene Trägheit. In ihren Wüstenaugen: vergatterte Melancholie. Den Grandseigneur am Katzentisch vor dem Klo, mit Einstecktuch, im Kreis gereifter Hippiedamen, hatten sie mal wegen Obszönitäten am Haken. So war Kultur früher. Mich unterhält der Streit eines Paares, das rätselhaft tätowiert auftritt und offensichtlich an ein größeres Publikum gewöhnt ist. Den beiden liegt nichts an Diskretion. Sie verbreiten sich über ihr Liebesleben und finden auch noch Gelegenheit, die Vorzüge und Defizite von Leuten zu erörtern, die irgendwie an ihren Sex angeschlossen sind. Sie loben sich für ihre Offenherzigkeit. Sie sind Feinde jedweden Verschweigens. Sie schaffen den Terror der Heimlichkeit ab.

Ich sehe Ariane an einem heimlichen Ort der Stadt: dem Schwedler See. Die Anlage am Ufer trägt noch die Handschrift der organisierten Arbeiterschaft einer vergangenen Epoche. Die hüttenartige Architektur wirkt zugleich karibisch und russisch also kubanisch.

Ein Gewitter kommt als Erleichterung. Es bringt einen Platzregen mit, der wie ein afrikanischer Niederschlag die Gegend flutet und die Gerüche des Lebens wieder wahrnehmbar macht.

„Du bist mein Mann“, sagt Ariane, und zum ersten Mal findet ein Satz, den ich schon oft gehört habe, in mir den vollen Anklang.