„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“ Cees Nooteboom
Der Mann, der meine Füße liebte
Meine letzte Affäre hatte ich mit dem Biografen meines Mannes. Das war der Dr. Kranz. Er bewunderte Christian. Mit der Biografie sollte Christians Rang bestätigt - und sein Theaterleben abgeschlossen werden. Ich fand den Biografen so anziehend, dass ich vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft auf eine Berührung wartete. Ich sehnte mich nach einer Umarmung. Fiebrig erwartete ich Dr. Kranz. In seiner Gegenwart musste ich mich ständig zur Ordnung rufen. Jede Veränderung in der Wohnung schien sein Raumgefühl zu düpieren. Er erkundigte sich nach Gegenständen. Ich stellte Dinge um, damit er mich darauf ansprach. Ich schämte mich für Christians erschütterten Zustand. Andererseits hoffte ich davon zu profitieren, in stillen Momenten, wenn Christian wegdämmerte und mit Speichelfäden auf dem Kinn einschlief. Ich lockte den Biografen fort von ihm, meine Tochter Selma war schon ausgezogen. Ich zeigte ihm Bilder von mir, ich suchte Gelegenheiten, unsere Köpfe zusammenzustecken. Ich verhielt mich so offensichtlich, aber Dr. Kranz nahm meine Bereitschaft erst einmal ausweichend zur Kenntnis. Ich wusste schon, dass er verheiratet war. Das war ich doch auch. Seine Zurückhaltung blieb mir schleierhaft, auch noch als er sie abgelegt hatte. Ich weiß bis heute nicht, was ihn zwei Wochen lang zögern ließ. In dieser Zeit kam er beinah täglich und immer fand ich einen Grund, ihn wenigstens in einem Augenblick für mich zu gewinnen. Er sah sich als Familienmensch. Er war kein Gipfelstürmer, obwohl man ihm den Imperator auf den ersten Blick abgenommen hätte. Als er sich endlich auf mich einließ, waren das seine ersten Worte der Leidenschaft: „Christian, das tut mir jetzt leid für dich.“ Er behielt seinen Humor beim Sex. Er beschrieb meinen Körper, sang leise ein Loblied darauf ... während Christian nebenan im Schlaf röchelte. Meine Wünsche sollte ich aufschreiben. So entstand das Liebesbuch. Ich kaufte dafür eine Kladde und schrieb 'Liebesbuch' auf das Deckblatt. Wenn der Biograf kam, las er bei erster Gelegenheit meine letzte Eintragung.
Dr. Kranz und ich trafen uns im Souterrain. Die Wohnung war nie bezogen und nur als Abstellgelegenheit genutzt worden. Es war ein idealer Ort für die Liebe. Wir schlüpften hinein und wähnten uns gleich auf einem anderen Planeten. Wir fanden viel Zeit für uns, gemessen an den Zwängen. Nach dem Akt redete Dr. Kranz über seine Frau so, dass ich froh war, nicht an ihrer Stelle zu sein. Er hatte sich über seine Verhältnisse erhoben. Er fühlte sich trotzdem erhaben. Das war seine Lächerlichkeit.
Ach ja, Dr. Kranz liebte meine Füße.
Was zuvor geschah
Wir gehen nur noch zu Leonie. Sie bewirtschaftet die nächste Ecke. Die Gaststube erinnert meinen Mann an Gastarbeiterkantinen in den 1960er Jahre. Da war ich noch lange nicht geboren. Ich freue mich aber für Christian, dass sich seine Erinnerungen mit Gegenständen der Gegenwart ausstatten lassen. Er kommt zu Leonie und findet eine Spur seiner Jugend. Mal führt sie auf einen Bahnhof, hinein in einen sonntäglichen Auflauf von Portugiesen oder Italienern ... ein Krähenkonvent auf der Rennbahn des Assoziativen. Ein anderes Mal geraten wir in die Versammlungsstätte eines spanischen Kulturvereins. Vor der Tür schlägt Novemberkälte alles zusammen, aber in dem Raum, mit seinem Kohleofen, wird Francos Tod bejubelt. Christian ist mittlerweile fünfundzwanzig, mich gibt es immer noch nicht. Der junge Mann nimmt die Gesichter der Männer in sich auf. Sie erscheinen ihm so eindrucksvoll wie ein Gemälde von Delacroix. Nach wilder Fahrt lässt Christian Goya mit Delacroix kollidieren und das spanische Jahr 1936, die Legion Condor und Martha Gellhorn sonst wo ankommen. Also nirgendwo. Und dann ist in diesem Zusammenhang noch von Bedeutung, was Picasso zu dem deutschen Offizier über Guernica gesagt - und wie sich das mit Hemingway und F. Scott Fitzgerald viel früher in Paris tatsächlich verhalten hat. Ich kann Christian immer folgen, selbst wenn er sich komplett verheddert und seine Alltagsvergesslichkeit den Horizont seiner Vergangenheitsgenauigkeit und seiner literarischen Bildung zu verdunkeln droht. Das gehört zu unserer Liebe: dieses mäandernde Erzählen. Es ist an die Stelle von so vielem getreten. Natürlich wiederholen wir uns, er beim Erzählen, ich beim Zuhören, aber das tun wir gern. Wir entscheiden uns auch immer für denselben Tisch. An sich ist der Tisch dem Personal vorbehalten. Er steht vor den Klos, und wenn Christian mit dem Rücken zum Publikum sitzt, sieht keiner, es sei denn, er legt es darauf an, wie ungeschickt mein Mann isst. Christian bestellt auch immer Lammkotelett. Zum ersten Mal hat er Lammkoteletts in London gegessen, bevor er zu einem Konzert von Blues Incorporated ging. Alexis Korner war am Ende so freundlich, sich mit dem deutschen Fan auf Deutsch zu unterhalten. Natürlich stand dem Vierzehnjährigen nicht all das zur Verfügung, was der Neunundfünfzigjährige ihm anvertraut. Aber was macht das? Christian verlegt Schlüssel und vergisst Verabredungen. Viele unserer Bekannten und sämtliche ständigen Fernsehnasen sind für ihn bloß noch Dingsdas. Er war schon schusselig, als wir heirateten. In den zehn Jahren unserer Ehe ist nichts besser geworden.
Wir kriegen immer noch Einladungen. Für Christian kommen sie nicht mehr in Betracht. Ihm innig oder exzessiv verbundene Mitarbeiterinnen vergangener Tage erscheinen ihm wie Leute, denen man mal flüchtig begegnet ist. Wie oft saß ich dabei, wenn jemand einen Erfolg meines Mannes beschwor, während Christian bloß ins Glas guckte oder junge Frauen anstierte. Ich habe auch noch ein paar Verehrer, die es gern sähen, wenn ich da und dort ohne Christian auftauchen würde. Darauf lasse ich mich nicht mehr ein.