Innig oder exzessiv
Wir gehen nur noch zu Leonie. Sie bewirtschaftet die nächste Ecke. Die Gaststube erinnert meinen Mann an Gastarbeiterkantinen in den 1960er Jahre. Da war ich noch lange nicht geboren. Ich freue mich aber für Christian, dass sich seine Erinnerungen mit Gegenständen der Gegenwart ausstatten lassen. Er kommt zu Leonie und findet eine Spur seiner Jugend. Mal führt sie auf einen Bahnhof, hinein in einen sonntäglichen Auflauf von Portugiesen oder Italienern ... ein Krähenkonvent auf der Rennbahn des Assoziativen. Ein anderes Mal geraten wir in die Versammlungsstätte eines spanischen Kulturvereins. Vor der Tür schlägt Novemberkälte alles zusammen, aber in dem Raum, mit seinem Kohleofen, wird Francos Tod bejubelt. Christian ist mittlerweile fünfundzwanzig, mich gibt es immer noch nicht. Der junge Mann nimmt die Gesichter der Männer in sich auf. Sie erscheinen ihm so eindrucksvoll wie ein Gemälde von Delacroix. Nach wilder Fahrt lässt Christian Goya mit Delacroix kollidieren und das spanische Jahr 1936, die Legion Condor und Martha Gellhorn sonst wo ankommen. Also nirgendwo. Und dann ist in diesem Zusammenhang noch von Bedeutung, was Picasso zu dem deutschen Offizier über Guernica gesagt - und wie sich das mit Hemingway und F. Scott Fitzgerald viel früher in Paris tatsächlich verhalten hat. Ich kann Christian immer folgen, selbst wenn er sich komplett verheddert und seine Alltagsvergesslichkeit den Horizont seiner Vergangenheitsgenauigkeit und seiner literarischen Bildung zu verdunkeln droht. Das gehört zu unserer Liebe: dieses mäandernde Erzählen. Es ist an die Stelle von so vielem getreten. Natürlich wiederholen wir uns, er beim Erzählen, ich beim Zuhören, aber das tun wir gern. Wir entscheiden uns auch immer für denselben Tisch. An sich ist der Tisch dem Personal vorbehalten. Er steht vor den Klos, und wenn Christian mit dem Rücken zum Publikum sitzt, sieht keiner, es sei denn, er legt es darauf an, wie ungeschickt mein Mann isst. Christian bestellt auch immer Lammkotelett. Zum ersten Mal hat er Lammkoteletts in London gegessen, bevor er zu einem Konzert von Blues Incorporated ging. Alexis Korner war am Ende so freundlich, sich mit dem deutschen Fan auf Deutsch zu unterhalten. Natürlich stand dem Vierzehnjährigen nicht all das zur Verfügung, was der Neunundfünfzigjährige ihm anvertraut. Aber was macht das? Christian verlegt Schlüssel und vergisst Verabredungen. Viele unserer Bekannten und sämtliche ständigen Fernsehnasen sind für ihn bloß noch Dingsdas. Er war schon schusselig, als wir heirateten. In den zehn Jahren unserer Ehe ist nichts besser geworden.
Wir kriegen immer noch Einladungen. Für Christian kommen sie nicht mehr in Betracht. Ihm innig oder exzessiv verbundene Mitarbeiterinnen vergangener Tage erscheinen ihm wie Leute, denen man mal flüchtig begegnet ist. Wie oft saß ich dabei, wenn jemand einen Erfolg meines Mannes beschwor, während Christian bloß ins Glas guckte oder junge Frauen anstierte. Ich habe auch noch ein paar Verehrer, die es gern sähen, wenn ich da und dort ohne Christian auftauchen würde. Darauf lasse ich mich nicht mehr ein.