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2024-12-29 16:13:19, Jamal

„So echt erzählt, dass die Enge beim Lesen der Weite weicht und man ganz tief Luft holt ..." Lob aus der story.one-Kommentarspalte

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„Diese Parallelwelt-Entwicklungsräume der Paarkonstellationen sind genial, es erinnert mich gerade an Matt Ruffs 'Fool on the hill'." Musenzeit

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„Lieber Jamal, wieder eine sehr einnehmende Episode, der erzählerische Einstieg lässt mich an ein Spiegellabyrinth denken. ‚In den Falten des Verhaltens fahndet er nach Poesie‘. So schön!“ Musenzeit

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Lieber Jamal, hier sind wieder so viele feine Schmuckstücke versteckt, die man drehen und wenden kann: Die Verträglichkeit von Monomanie und Empathie. Lufthoheit. Das Donnerwetter der Selbstüberschätzung. Seelenschmusen. Ein sehr tiefer, fein gerahmter Einblick in ein Miteinander in widersprüchlicher Ablehnung. Musenzeit

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Lieber Jamal, das Bild (von Marianne und Yannik beim gegenseitigen sich Einseifen) unter der Dusche, das finde ich jetzt sehr erotisch. Marianne liebt den Anfängergeist und lässt sich von Yannik liebend gern immer wieder in den Formgenuss führen. ... Ich fühle mich wohl in der Qi-Saga und der Entwicklung, es ist ein Raum des gepflegten Hochgefühls. ... Ich nehme das schöne Bild der beiden Hochgefühlsbeflügelten mit in meine Träume. Ich habe unsere vielfältig freudige Textraumreise (auch heute wieder) sehr genossen und staune wieder einmal, wo wir überall hinreisen und sich die Räume in alle Richtungen so mühelos entfalten dürfen. Musenzeit

Nachgemachtes Berlinisch

Am Anfang unserer Ehe habe ich mich manchmal noch umgeguckt, und eher wegen Selma als Christian zuliebe viel zu oft die Füße stillgehalten. Der Seitensprung ist traditionell eine Abendveranstaltung und abends waren mir zuhause meist die Hände gebunden. Christian wurde wahnsinnig vor eifersüchtiger Angst, wenn ich ausgehen wollte, und Selma war ein anhängliches Kind. Sie stammt aus meiner zweiten Ehe. Ihr Erzeuger war mein Schönster. Carlo gab ein Beispiel für Ausgeglichenheit, bis zu dem Tag, an dem die kaum vierundzwanzigjährige Assistentin eines mit uns sehr befreundeten Verlagsleiters ihn außer sich geraten ließ und er unbedingt noch einmal von vorn anfangen wollte. Ich zerbiss mir die Nägel und lag mit Schreikrämpfen auf dem Parkett verschiedener Wohnungen. Seit Robert war ich nicht mehr verlassen worden. Stets war die Einsicht vom Scheitern einer Beziehung mir zuerst geläufig gewesen. Für das, was mir widerfuhr, hatte ich kein Konzept. Es musste auch so gehen. Als ich wieder zu mir kam, nahm Selma meine Hand und begleitete mich in die Traurigkeit. Sie hielt lange vor. Ich hielt sie noch für meinen Zustand, als ich mit Christian schon Jahre verheiratet war. Sie verließ mich sang- und klanglos, ich möchte sagen, eines schönen Tages. Eines schönen Tages war sie weg ohne ein Wort des Abschieds. Ich habe sie dann auch noch eine Weile vermisst.

Ich folgte Carlo von Frankfurt am Main nach Berlin, wir lebten am Majakowskiring. Die erste Regierung seines Staates war da zuhause gewesen. Wollte ich mit Selma an die Luft, hatte ich die Wahl zwischen zwei Parks. Unsere Wege ergaben sich zwischen beispielhaftem Bauhaus und Stadtvillen aus der Gründerzeit. Das war schon schön. Ich hatte meine Sache aufgegeben, Carlo verdiente mehr als genug für seine kleine Familie und mein Ehrgeiz war vom Familienglück verzehrt worden. Aus Solidarität verachtete ich mit ihm den Wandel im Prenzlauer Berg, seine schnöde Verwestlichung. Mein Mann war in Köpenick auf die Welt gekommen, wenn er was auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann nachgemachtes Berlinisch. Wir fuhren nie nach Mitte, höchstens mal wegen einer Aufführung in einer Nebenstelle des Maxim Gorki-Theaters oder weil Carlo im ‚Einstein‘ Leute treffen musste, die nicht wussten, wo man hingeht. Wir fuhren durch die Schorfheide oder nach Caputh oder gleich an die Ostsee. Einmal fanden wir eine tote Teufelskrabbe am Strand. Dass es eine Teufelskrabbe war, wusste ich von einer Abbildung in meinem Kochbuch. Sie sah noch so lebendig aus, dass ich zuerst zurückgeschreckte. Zehn Beine hatte das Tier. Es war noch nicht komplett ausgetrocknet. Deshalb nahmen wir die Krabbe nicht mit. Carlo wollte keinen verrottenden Leichnam in der Wohnung.  

*

Über Berlin ist viel geschrieben worden, irgendwann, als mein Carlo-Glück noch gar nicht lange kaputt war, traf ich Christian auf der Klosterstraße. Er kam aus der ‚Letzten Instanz‘, ich will jetzt nicht folkloristisch werden und von Berliner Kneipen anfangen. Es war noch taghell, ich roch seine Fahne. Das war mir vertraut, denn ich traf Christian wieder. Während meiner Ehe mit Scott war er einer meiner Geliebten gewesen. Damals lebte ich in Frankfurt und er in Zürich – und in Düsseldorf. Da hauste er in einer Mansarde, in die Stellwände eingezogen worden waren. Die Kabinen wurden als Zimmer vermietet. Sein Nachbar existierte in einem Zustand melancholischer Erstarrung. Er wäre beinah mal jemand gewesen, als Musiker in der Campino-Korona - in der Keimzeit der Toten Hosen. Christians Zukunft lag schon hinter ihm, als wir uns kennenlernten. Er verprasste, was es zu verprassen gab, mit einer Wucht, die ich genauso abstoßend wie anziehend fand. Damals hatte er alles: Charisma, Intelligenz, Einfallsreichtum. Er wollte mich so sehr. Christian besaß die Gabe, sich zu konzentrieren. Über die geistige Welt verfügte er wie ein Schreiner über das Brett. Er zog eine Linie von Brecht zu Schwarzenegger, wenn er behauptete, alles in einer Hand halten zu können. Und die Leute fraßen ihm aus der Hand. Ich fraß ihm auch aus der Hand und zur Strafe dafür, dass ich Scott betrog, schickte ich Christian immer wieder in die Verzweiflung. In seiner Verbannung hoffte er, so wie man beten könnte, wenn man alles verloren hat. Ich musste mich nur kurz gnädig zeigen, um ihn sofort wieder auf hundertachtzig zu haben. Die Bedeutung des Wortes Geschlechterkampf ging mir in der Beziehung zu Christian auf, als er auf der Höhe war und schon darüber hinaus wie ein Apfel mit Fäulnisvorgeschmack. Das Marode entdeckte ich an Kleinigkeiten. Zum Beispiel, an dem Aufwand, der getrieben werden musste, damit Christian nur wie jeder andere daherkam, also rasiert und gekämmt und nicht immer bloß wie im Anzug geschlafen. In seiner Gegenwart war ich ständig in Sorge, er könnte aus der Rolle fallen und sich unnötig aufblasen. Er bekam seine Haushalte nicht hin. Gleichzeitig konnte er das Leben zu einem Höhenrausch machen. Christian wusste, wie man Dinge weich biegt und kommod erscheinen lässt. In der Erinnerung entspricht dieser Vorlauf einem einzigen Toben. Er gegen die Widerstände der Welt … den mache ich zum Gespenst, der meinem Willen trotzt. Das ist ungefähr Shakespeare. Ich durfte mich zurückziehen und meinen Ehekrieg ausfechten, aber sobald ich auf den Christian-Knopf drückte, stand mein Geliebter furios auf der Matte, um mir nach kostspieligen Vorspielen den Fuß unverzüglich auf den Nacken zu stellen. Zu meiner Zeit (als seiner Geliebten) war er schon einmal besser in Form gewesen. Darüber wurde gesprochen, das heißt, Christian sprach darüber. Er erzählte für sein Leben gern, wie lang er früher vögeln konnte. Angeblich hatte er ganze, im Fernseher gezeigte Spielfilme in einer Frau durchgestanden. Das hat er bestimmt. Sobald er zum Zug kam, wurde er so bestimmend. Sowas kommt nicht von ungefähr. Das ergibt sich aus Erfolgserfahrungen und einem ewig kindlichen Erstaunen, das sich brachial in Routine verwandelt.
Wir sahen uns auf der Klosterstraße, er hatte die Hände gegen den Wind in die Taschen gestemmt. Ich roch den bierfaulen Atem und empfing einen Appell an meine Begeisterungsfähigkeit. Wir waren uns Jahre nicht begegnet. Christian hatte nach mir zu einem Sturmlauf der Selbstzerstörung angesetzt. Er hatte sich fett gesoffen und seiner Wut das Kleid beachteter Inszenierungen verpasst. Nun prahlte er mit guter Laune.

Traumfrau noch im Hass

Christian beschwor die Saugfähigkeit antiker Bierdeckel. Er wollte so heroisch sein wie der alte Mann und das Meer. Ich wohnte inzwischen im Prenzlauer Berg. Das hatte sich so ergeben. Wir nahmen ein Taxi zu mir. Wir hatten immer Taxis genommen. Im Taxi herrschte schon Rauchverbot. Christian raucht immer noch seine Schachtel Marlboro am Tag. Sein Husten bleibt ein vertrautes Geräusch. Morgens höre ich ihn im Bad würgen. Camel rauchte er an jenem Nachmittag vor bald vierzehn Jahren „aus gesundheitlichen Gründen“.

„Töpfern war gestern“, sagte er, als ich vage es wagte meine größte Überraschung vor den Schirm der freundlichen Wiederbegegnung in den Regen seines Spotts und seiner, wie ich heute sicher weiß, im Wahnsinn wurzelnden Überheblichkeit zu stellen. „Warum“, fragte ich so zögerlich wie bei der Steuererklärung, „sprichst du mit mir?“ Ich hatte Christian furchtbar zugesetzt und ihn beinah vernichtet. Doch genauso gut hätte ich sagen können, ich habe es immer gewusst. Eines Tages werden wir uns über den Weg laufen, es wird kalt sein, und die paar Worte bis zum ersten Kuss gehören zu einer Konvention, die uns, in unseren Herzen, so fremd vorkommt, wie eine Konfession. Eines Tages war jetzt. Die Berliner Fassaden fand Christian funky. „Die Nazis konnten bauen. Kaum zu glauben, dass Berlin mal in Trümmern lag“. Auch solch ätzenden Text kannte ich, nicht aber die Brille, die Christian aufsetzte, um das ein oder andere zu entziffern oder zu notieren. Wahnsinnig wie er war, wie gesagt, ohne dass mir das klar gewesen wäre, erzählte er von einem Jupiter, den er in Bochum kennengelernt hatte. Jupiter sei so dämlich, dass er prä und post verwechsele. Trotzdem habe er etwas „gekonnt eingeschädelt“. Christian hatte stets einen Kellnerblock dabei, der irgendwo mitgegangen war. Vor ihm war kein Feuerzeug sicher. Er steckte auch Servietten ein. „Bei dem bestand bereits Verdacht auf Kadaver.“ Christian war wieder bei Jupiter, ich hatte von der Inszenierung gelesen, die Christian gerade auf der persönlichen Ebene durchhechelte. Er fasste mich an. Gleich würde er mit mir unsere Liebes-Agenda durchgehen. „Bist du schon beim Tagtraum?“, fragte er. In unseren Körpergeschichten waren wir uns gern als ganz junge Leute zum ersten Mal nahegekommen. Oft an Seen, in solchen Ablösungsvorgängen, bei denen man eine Gruppe hinter sich lässt und sich ins Gestrüpp verdrückt. Verkrüppelte Kiefern spielten da ihre Rolle und Nadeln auf sandigem Boden. Das war Spielmaterial für uns. Christian bezahlte den Taxifahrer mit unerträglicher Verachtung. Warum bist nicht Millionär? Warum machst du nicht, was du willst? Warum schöpfst du nicht aus dem Vollen? Das war nur für mich bestimmt. Für mich wollte Christian der Größte sein. Das rührte mich wie manche Gesichter meiner Tochter. Zwischen Jetzt und dem Jetzt von damals war also keine Frau an mich herangekommen. Ich war seine Traumfrau noch im Hass geblieben. Nie hatte ich jemanden so unglücklich gemacht wie Christian und offenbar auch niemanden so glücklich. Er küsste mich im Treppenhaus, seine Hände rasten. „Ist alles an seinem Platz“, sagte ich vergnügt. „Du kannst mich sofort haben.“ „Das muss ich auch unbedingt“, sagte Christian ernst wie beim Arzt. Er war zwar sehr belebt, aber auch sehr traurig. Dem Fest würde die Hölle auf Erden folgen, direkt auf dem Fuß. Daran konnte für Christian kein Zweifel bestehen. Es war ja immer so gewesen.

Verstörtes Okapi

Was zuvor geschah

Er küsste mich im Treppenhaus, seine Hände rasten. „Ist alles an seinem Platz“, sagte ich vergnügt. „Du kannst mich sofort haben.“ „Das muss ich auch unbedingt“, sagte Christian ernst wie beim Arzt. Er war zwar sehr belebt, aber auch sehr traurig. Dem Fest würde die Hölle auf Erden folgen, direkt auf dem Fuß. Daran konnte für Christian kein Zweifel bestehen. Es war ja immer so gewesen.

So geht es weiter

Im Augenblick der Leidenschaft begann die Galgenfrist. Ich sah, dass er daran dachte. „Diesmal wird es anders“, versprach ich. „Das hast du so oft gesagt vor einem bösen Ende.“ So wollte ich ihn nicht. Christian durfte jetzt nicht einknicken. Selma war bei einer Freundin, ich würde sie bald abholen müssen. Wir mussten uns beeilen, gerade kam nur etwas Vorläufiges in Betracht. In meinem Korridor zog ich mich prompt aus. Mit dem Mantel ließ ich den Rest fallen. „Das ist nur zur Begrüßung“, sagte ich. Zweifellos war Christian verwirrter als ich.

„Willst du hier auf uns warten?“ fragte ich. Im uns lag die Verheißung. Selma und ich – von einem Mann war nicht die Rede. Er wollte trotzdem lieber auf die Straße und in die nächste Kneipe. Weitersaufen. Bloß nie runterkommen und im Normalmodus die Verheerungen am eigenen Leib betrachten. Dem Miesepeter Wirklichkeit immer einen Doppelkorn voraus. So ein Flüchtling war Christian. Trotzdem war ich bereit, mich ganz und gar auf ihn einzulassen. Ich konnte in seinen Augen meine Schönheit nicht verlieren. Das war viel wert. Das musste bis auf Weiteres reichen. Ich strich das bis auf weiteres auf dem Weg zu meiner Tochter, um es bei Gelegenheit wieder einzusetzen. Ich rief Christian an, nachdem ich Selma ins Bett gebracht hatte. Er kam gleich an. Als hätte er im Treppenhaus gewartet. Im Rausch leuchtete er wie ein Lampenladen. Ich machte eine Flasche auf, erstmal war großes Sprechen angesagt. Ich erwartete einen zweistündigen Vortrag. Christian hielt damals in Berlin, Bochum und Frankfurt am Main Verträge ein, bis eben war er auch noch zu einer amerikanischen Universität gependelt. So kannte ich ihn. Ihm gefiel es, erstmal nichts vorzufinden außer der Verzweiflung von Kollegen. Er in seinen Worten: „Dann sagte ich zu dem Kasper: „Vor der Schöpfung war nichts. Gott hat auch bei null angefangen. Wir stellen zunächst ein paar Wurfzelte auf.“  Ich spürte den Wein. Christian über die Last der Verantwortung an verschiedenen Spielplätzen: „Wenn man sich Bilder von höchsten Würdenträgern vergangener Zeiten anschaut, dann fällt auf, dass sie sich sehr gerade halten. Warum, glaubst du, hielten sich Könige so gerade?“ Er befreite meinen Busen von seinen Verhüllungen. Ich wusste gerade nicht, worauf Christian hinaus wollte. Gib mir Bescheid, du großer, schlauer Mann. Das gab ich ihm zu verstehen. „Naja“, fuhr Christian hochgemut fort, „die Kronen waren schwer, eine Last auf den Köpfen der Könige. Also, wenn man es schwer hat, dann macht man sich gerade.“ Wir zogen ins Schlafzimmer, nicht, dass wir da vor Selma gänzlich sicher gewesen wären. Sie war beunruhigt eingeschlafen. Sie wartete darauf, dass ihr Vater uns aus der Verbannung holen - und die falsche Prinzessin ihre gerechte Strafe kriegen würde. Manchmal ließ Selma mich an ein verstörtes Okapi denken. Ich kümmerte mich um Christian. Er unterbrach mich, das kannte ich auch. Er wollte weiterquatschen. Er war nur in Klammern bei mir, der wilde Mann saß noch in der Kneipe und soff sich zur Rinne hin. Nein, die Stimmung war nicht sonntäglich. Ich holte uns noch eine Flasche ins Schlafzimmer, ich war geneigt gerade zu gehen, ebenso wie das Mannequin, das ich nie gewesen war, sieht man von ein paar provinziellen Modenschauen ab.

Du gehörst mir

„Du gehörst mir“, behauptete Christian. Er hatte darauf schon zu hören gekriegt: „Da macht einer die Rechnung ohne die Wirtin“. Doch in jener Nacht sagte ich: „Auch wenn du mir das jetzt noch nicht glauben kannst, so ist es. Ich gehöre dir.“ Ich wiederholte es zu meinem Vergnügen. Ich gehöre dir. Ich sang es so vor mich hin. Dann fanden wir unseren Rhythmus. Auch dafür hatte ich schon vor vielen Jahren eine Ehe aufs Spiel gesetzt. Nun durften wir unsere Liebe aussprechen. Christian fasste Tritt, von seiner Erregung aus der Irre geführt. „Du bleibst bei mir“, sagte ich. Ich kam meinen Musenpflichten nach. Christian fand in den Gesprächen nach dem Sex Formulierungen, die ihn als Regisseur weiterbrachten. Er hatte ganze Theorien auf der Grundlage unseres Bett-Parlando entwickelt. Detailreich beschrieb Christian wie wir einmal in Frankfurt am Main spazieren gewesen und endlich in einer Bootshausgaststätte eingekehrt waren. Der Termin meiner Scheidung stand fest. Es war Februar, ich war zwischen den Jahren mit einem Stammzellenforscher in Prag gewesen. Das wusste Christian nicht. Der Forscher wollte mich heiraten. Aber ich hatte auch noch was mit einem Schriftsteller und mit einem Musiker und außerdem, am Rande, mit einem sächsischen Galeristen. Wendemanöver hatten den Galeristen zum Millionär gemacht. Die Nebengeräusche des Liebhaber-Aufkommens beunruhigten Christian. Ich gestand ihm nichts. Er hielt sich für Scotts Nachfolger, das taten andere auch. Jeder konnte mich in Situationen bis zu dem Punkt bringen, dass ich ein gemeinsames Leben mit ihm für möglich hielt. Aber Christian hielt einen Vorsprung. Das wollte ich ihm sagen, ohne es aussprechen zu müssen. Ich hatte die Nacht zuvor mit dem Forscher verbracht und erwartete den Musiker am folgenden Tag.  

Christian kaufte in Frankfurt ein Haus, wir bezogen darin eine Wohnung. Man empfing uns wie einen aus dem Exil zurückgekehrten König und sein Gefolge. Mein Mann versperrte sich, nun ging ich oft allein aus. Es ergab sich rasch ein Verhältnis mit einem ehemaligen Nachwuchstalent, das auf einer Kulturverwaltungsstelle verweste. Mit dieser Pfeife hatte ich meine vorletzte Affäre. Meine Ex-Männer hielten den Kontakt. Noch einmal schwang sich Christian auf und lieferte auf seinen Feldern Bemerkenswertes ab. Doch verlor er das Interesse an seinen Dingen vor Ablauf unseres zweiten Ehejahres. Fortan war ich schon sein ganzes Publikum.

„Du bist für mich so groß wie eine Stadt“, sagte er. Das genügte Christian. Er war angekommen. Um dieser Entwicklung den richtigen Rahmen zu verpassen, muss man das Agens seiner Produktivität kennen. Zeit seines beruflichen Lebens hatte Christian mit seiner Arbeit Frauen beeindrucken wollen. Sie waren für ihn das Höchste, nicht das Geld, das er von Haus aus reichlich hat, und nicht der Ruhm, den er höchstens mit reibungslosem Service in Verbindung brachte. Sein Glück hatte lange allein darin bestanden, erst eine Kultur-Akteurin im rauschenden Aufmarsch zu blenden und zu kapern und sich dann mit ihr zur Klausur in einer Wohnung einzuschließen. Das Weitere erschöpfte sich im Spektrum zwischen Minne und Muse.

In der Handlungsgegenwart - wir sitzen an unserem Tisch bei Leonie. Zur Feier des Tages trägt Christian einen Anzug. Ich werde ihn morgen in die Reinigung geben. Gleich wird sich Leonie zu uns setzen, mit einer Flasche Tsipouro. Sie führt ihren Betrieb fast lautlos. Sie empfiehlt einen Wein, der nicht auf der Karte steht. Selbstverständlich kennt sie Christians ausgeleerte Aversion gegen Dutzendgenüsse.

Eine feine Verschwörung

Ich reagierte auf Nachlässigkeiten meines Verehrerschwarms. Ich vermisste die tobsüchtige Inbrunst, die ich Jahrzehnte lang in Männern auslösen konnte. Die Traurigkeit in meinem Rücken, wenn ich aufbrach und Christian einfach auf seinem Sesselthron sitzenließ. Nun kamen mir unsere Schwüre, all die großen Worte grotesk vor. Was hatte ich ihm nicht alles versprochen. Was hatte ich mir nicht alles von ihm versprochen. Ein tückisch beschleunigter Alterungsprozess hatte Christians letztes Aufbäumen niedergekämpft. Wenn ich nur daran dachte, wie er in seiner Dauerbrunstzeit über andere geredet hatte. „Der erpresst die Leute mit seinem Bedürfnis, verstanden zu werden. ... Der frisst Zoloft wie Kinder Bonbons fressen. ... Wenn er einem wenigstens seinen geistigen Unrat ersparen könnte.“ Eine Viertelstunde später: „Und wenn sonst nichts geht, dann sagt man zumindest ein paar bestimmende Worte. Gewiss, das ist das Armleuchterprogramm, aber bevor man vollkommen aufgeschmissen ist. ... Dann wurde der Dame in den Mantel geholfen, dass die Schwarte krachte. ... Diese herzerfrischenden Geysire des Ressentiments ... Bei Katja ist das doch unbedingt das letzte Aufbegehren vor der totalen Resignation. ... Und dann sagte ich zu dieser Baracke: Betrachte es als unverdientes Privileg, dass ich dich überhaupt noch einmal auf eine Bühne lasse.“  

Einer seiner lahmsten Epigonen inszenierte an einer Kleinkunstbühne in unserem Stadtteil. Ich musste nur um zwei Ecken. Das Gernegroß war ein legendärer Kiez-Spot, ein letzter Hafen für abgetakelte Großsegler der Kultur. Der Schauplatz war lange ein Versammlungsort für bürgerliche Vereine gewesen, ein Tanzsaal und Proberaum für Innungschöre. Er gehörte zur Burgschänke, einer dynastisch geführten Apfelweinkneipe. Gründer des kleinen Theaters war Norbert Nasenschweiß. Nacht für Nacht saß er an seinem Tresen und trank mit dem Personal. Es herrschte ein Kreisklassencorpsgeist. Wer sich darüber erhob, wurde vor versammelter Mannschaft von einer Aushilfe eingestampft. Ich sah Leute mit Format und Meriten einknicken. Das war eine feine Verschwörung. Ich bewunderte die Tapferkeit alternder Schauspielerinnen. Ich flirtete mit Hannes. Nie bin ich einem zufriedeneren Menschen begegnet. Er galt als die Zuverlässigkeit in Person. Als der Beständigste von allen. Hannes kannte alle Produktionen auswendig und unterhielt sich mit der Crème de la Crème des Fußvolks hauptsächlich in Zitaten. Alles war Ironie und Anspielung, wer fünf Minuten lang die Witzigkeit außer Acht ließ, musste mit Verwunderung rechnen. Endlich küsste mich Hannes in der Künstlergarderobe. Zu Hause döste Christian vor dem Fernseher. Selma schlief hoffentlich. Ich war an einem Tiefpunkt angelangt. Ein Monster der Bescheidenheit wiederholte sich im Bewährten. Warum nicht, dachte ich, wie schon manches Mal. Ich war wieder siebzehn und fasziniert von einer Kirmesanmache. Ich schenkte Hannes ein Freilos, er nahm es gelassen entgegen. Ich lernte dann auch noch seine Wohnung kennen. Er lebte in einem Museum und schlief mit mir in einem Bett, in dem seine Großmutter zur Welt gekommen und gestorben war. Ja, ich betrog Christian und fand das eine Weile so notwendig, dass ich mich beinah für verliebt hielt. Hannes war so vermessen, nichts Besonderes daran zu finden. Im Untergrund seiner Ironie verbarg sich eine umfassende Lächerlichkeitsvermutung. Ich brachte ihn dahin, meine Füße zu küssen, erregt von der Vorstellung, dass er mir gleichmütig einen Gefallen tat. Ich ergründete seinen Charakter, während Christian, von seinen Ahnungen alarmiert, mich an sich zu fesseln versuchte. Ich war sein Leben, ich durfte ihn nicht noch einmal verlassen.

Abstauber

Von seinen Ahnungen alarmiert, versuchte Christian, mich an sich zu fesseln. Ich war sein Leben, ich durfte ihn nicht noch einmal verlassen. Das passte. Christian wegen Hannes zu verlassen, wäre zu albern – und auch diesem allenfalls halb passablen Abstauber nicht recht gewesen. Hannes hatte eine Freundin, die ihn innig liebte und sich mit ihm einen Spätstart in die Normalität einer Ehe vorstellen konnte. Er bestand auf die Durchsetzung eines Aufregungsverbots bis zum versöhnlichen Schluss.

Ich erzählte mir Hannes und zeigte Christian den Text. Seine Schwäche zwang mich dazu.

„Wo nimmst du das her?“ fragte er. Er hatte viele Sätze nur geschrieben, damit ich sie streichen konnte: als er mein Geliebter war und den Erpresser in sich befragte, wie viel Gemeinheit ihm zustand. Bestimmt hatte es Augenblicke gegeben, in denen Christian zu jeder Überschreitung bereit gewesen wäre. Nur seine ästhetischen Maßstäbe hätte er damals nicht verletzt. Nun war er selbst ein Beraubter und durfte nicht mehr streng sein. Christian fragte: Mit wie vielen Männern hast du mich in unserer Ehe betrogen? Mit zwei Männern, gab ich ungenau an. Es war Zeit für meine Nachmittagszigarette.

Ich erzählte Christian von Nasenschweiß. Ist er gedämpft, sagen seine Leute: Dem lieben Gott ist eine Laus über die Leber gelaufen. Im Winter trinkt er Dornfelder aus einem nur für ihn bestimmten, unpassenden Glas. Vom Frühling bis in den Herbst trinkt er Spätburgunder aus einer Tulpe. Wechselt er den Wein, bricht im Gernegroß eine neue Jahreszeit an. Unter Umständen im Januar. Bei manchen Männern verfällt Nasenschweiß in die Mundart seiner Gegend. Ihm scheint jeder recht zu sein. Die Wichtigen werden abgefertigt, ohne es zu merken. Alle rücken automatisch zu ihm auf, außer der an seine Wirkung gewöhnte, von ihm auf seine Weise verwöhnte Herde.

Christian machte sich Notizen, das war ein gutes Zeichen. Inzwischen betrieb er eine ausladende Buchstabenmalerei. Er hatte mich zu Aufführungen geschickt, um sich im Nachhinein haarklein alles erzählen zu lassen. Seine Fragen hatten mir bewiesen, wie viel Fleisch und Blut und Ausstattung in meinen Überlieferungen bei ihm ankamen. Christian hielt sich nun nur noch in einer Nebenrolle für tragbar. Er versprach mir die Freiheit zu Verhältnissen. Ich schwor ihm Treue, ich hörte meine Tochter in der Küche mit einem Mann reden.

„Ich bin deine Frau“, sagte ich.

Christian liebte solche Sätze.

„Daran wird sie nie etwas ändern.“

Ich rang meinem Mann Beteuerungen ab, obwohl es an mir gewesen wäre zu beteuern. Ich verzog mich auf die Dachterrasse, rauchte eine auf den kommenden Sommer und genoss den freien Blick auf die Skyline am Main und einem dezent roten Abendhimmel darüber. Später würde ich wieder Christians Selbstgespräch lauschen. Es soll keiner annehmen, dass ich unglücklich gewesen wäre.

Ausladende Buchstabenmalerei

Von seinen Ahnungen alarmiert, versuchte Christian, mich an sich zu fesseln. Ich war sein Leben, ich durfte ihn nicht noch einmal verlassen. Das passte. Christian wegen Hannes zu verlassen, wäre zu albern – und auch diesem allenfalls halbwegs passablen Abstauber nicht recht gewesen. Hannes hatte eine Freundin, die ihn innig liebte und sich mit ihm einen Spätstart in die Normalität einer Ehe vorstellen konnte. Er bestand auf die Durchsetzung eines Aufregungsverbots bis zum versöhnlichen Schluss.

Ich erzählte mir Hannes und zeigte Christian den Text. Seine Schwäche zwang mich dazu.

„Wo nimmst du das her?“, fragte er. Er hatte viele Sätze nur geschrieben, damit ich sie streichen konnte: als er mein Geliebter war und den Erpresser in sich befragte, wie viel Gemeinheit ihm zustand. Bestimmt hatte es Augenblicke gegeben, in denen Christian zu jeder Überschreitung bereit gewesen wäre. Nur seine ästhetischen Maßstäbe hätte er damals nicht verletzt. Nun war er selbst ein Beraubter und durfte nicht mehr streng sein. Christian fragte: Mit wie vielen Männern hast du mich in unserer Ehe betrogen? Mit zwei, gab ich ungenau an. Es war Zeit für meine Nachmittagszigarette.

Ich erzählte Christian von Nasenschweiß. Ist er gedämpft, sagen seine Leute: Dem lieben Gott ist eine Laus über die Leber gelaufen. Im Winter trinkt er Dornfelder aus einem nur für ihn bestimmten, unpassenden Glas. Vom Frühling bis in den Herbst trinkt er Spätburgunder aus einer Tulpe. Wechselt er den Wein, bricht im Gernegroß eine neue Jahreszeit an. Unter Umständen im Januar. Bei manchen Männern verfällt Nasenschweiß in die Mundart seiner Gegend. Ihm scheint jeder recht zu sein. Die Wichtigen werden abgefertigt, ohne es zu merken. Alle rücken automatisch zu ihm auf, außer der an seine Wirkung gewöhnten, von ihm auf seine Weise verwöhnten Herde.

Christian machte sich Notizen, das war ein gutes Zeichen. Inzwischen betrieb er eine ausladende Buchstabenmalerei. Er hatte mich zu Aufführungen geschickt, um sich im Nachhinein haarklein alles erzählen zu lassen. Seine Fragen hatten mir bewiesen, wie viel Fleisch und Blut und Ausstattung in meinen Überlieferungen bei ihm ankamen. Christian hielt sich nun nur noch in einer Nebenrolle für tragbar. Er versprach mir die Freiheit zu Verhältnissen. Ich schwor ihm Treue, ich hörte meine Tochter in der Küche mit einem Mann reden.

„Ich bin deine Frau“, sagte ich.

Christian liebte solche Sätze.

„Daran wird sie nie etwas ändern.“

Ich rang meinem Mann Beteuerungen ab, obwohl es an mir gewesen wäre, zu beteuern. Ich verzog mich auf die Dachterrasse, rauchte eine auf den kommenden Sommer und genoss den freien Blick auf die Skyline am Main und einen dezent roten Abendhimmel darüber. Später würde ich wieder Christians Selbstgespräch lauschen. Es soll keiner annehmen, dass ich unglücklich gewesen wäre.

*

Wir sitzen an unserem Tisch bei Leonie. Ja, Leonie. Wie schön, dass wir uns erhalten geblieben sind. Vom Eis befreit sind alle ihre Verhältnisse inzwischen. Auch dieser Zugvogel wird sein Winterquartier nicht mehr verlassen. Leonie hält noch an ihrer Mundart fest. Die Steilküste ihrer Kindheit hängt als Bild an einer Wand in Sachsenhausen. Wir reden über alte Zeiten. Als wir einen Damenkranz gegründet und weibliche Bandenbildung auch im Gernegroß betrieben hatten. Mit Stricknachmittagen und Doppelkopfrunden. Und einem Spezialverteiler für Frauen im Kulturbetrieb.

Zum Glück ist Christian noch nicht inkontinent. Bald wird er tot sein, dann kann ich um ihn trauern und mein Bild von ihm für die Öffentlichkeit korrigieren. Jeden Tag verbessere ich meine Version seines Lebens. Die Koteletts kommen, heute bringen sie Christian auf Gaston Salvatore und das Jahr der Revolte.

„Die ausgehängten Klotüren machten mich zum Reaktionär“, sagt er. „Kommunismus ... das waren für mich Frauen, die Sex für eine revolutionäre Tat hielten. ... Die Rote Armee Fraktion ... Für mich stand fest: ich mache aus der Militanz Theater. Denn etwas anderes als Theater war diese Militanz nicht ... Die Leute haben genauso gekuscht wie vorher und später.“

„Du hättest dir eine Serviette in den Kragen stecken sollen“, sage ich.

„Du bist eine gemachte Frau, gestopft bis zum Hals“, erwidert Christian. „Du musst doch nur Geduld haben. Wenn sich einer beeilt, dann bin ich das.“

Ich berühre ihn, um meiner Antwort Geltung zu verschaffen: „Du bleibst bei mir. Wir stapfen gemeinsam durch unseren Winter.“

Christian könnte mir entgegenhalten, dass mir erst noch der zweite Frühling bevorsteht. Er hat aber den Faden verloren und im Augenblick überhaupt nichts zur Verfügung. Er grimassiert, ich sehe die Verwandlungen seiner Angst. Sechs Jahre ist es nun her, dass ich ihn so zum ersten Mal gesehen habe. Er saß am Schreibtisch, ich sprach ihn auf seinen Zustand an. Er sagte: meine Gedanken sind weg. Vier Jahre zuvor hatte er meine Verletzungen seiner Person noch mit genauen Ortsangaben und von überall hergeholten Bewegungsbildern datiert und bestimmt. Ich war so wertvoll nicht zuletzt deshalb gewesen, weil ich seine Angaben bestätigen konnte. Er rechnete es mir als Verdienst an, von mir dermaßen in die Konzentration getrieben worden zu sein und alles andere ausgeschlossen zu haben. Ebenso wie bei einer Produktion.

Hannes kreuzt auf. Leonie und er kennen sich auch schon ewig. Er kommt an unseren Tisch, küsst mich mit der gebotenen Zurückhaltung und erkundigt sich beflissen bei Christian nach dessen Befinden. Ich unterstelle ihm eine Mischung aus Höflichkeit und Verschlagenheit. Hannes hilft, Christian heim zu schaffen. Im Treppenhaus berührt er mich unangemessen, es wäre so einfach. „Dass das nie aufhört“, wundere ich mich in aller Unaufrichtigkeit.

„Das hört nie auf“, entgegnet Hannes begeistert. Ich bin mir sicher, er hat heute noch etwas vor.

„Bestell Ariane einen schönen Gruß von mir“, sage ich generös.

Erst auf der Couch klären sich Christians Züge. Eine Kochshow nimmt ihn in Anspruch. Er bittet mich, seinen Block und einen Stift zu holen, er genießt meine Fürsorge. Notiert aber nichts, sondern stiert bloß auf den Bildschirm, vermutlich ein unbegreifliches Gewusel vor Augen. Ich schenke mir ein, lang her, dass Christian und ich wenigstens ein anspruchsvolles Trinkerpaar waren. Aber mir ist auch wohl in meinem Wohnzimmer. Ich ziehe die Beine an und nehme mir für morgen vor, Christians schriftlichen Nachlass zu erweitern. Als seine Witwe werde ich noch einmal in Erscheinung treten, womöglich mit einem begabten Protegé an meiner Seite. Ich erwäge, wie jung meine Begleitung passenderweise sein dürfte. Selma meldet sich, von einem Lektor erwartet sie ein Kind. Sie lebt wieder in Berlin und versteht sich gut mit ihrem Vater und seiner Familie. Familien sehen heute so aus. Ich könnte mit meinem Nachwuchstalent einfach dazustoßen. 

Stabil verheiratet

Mit ihren Wanderschuhen und Rollkragenpullovern war Leonie die uneitelste Kollegin im Feministischen Damenkranz. Sie hat so viel abgetan. Nun färbt auch sie ihr Haar. Sich an einem im Grunde unwirtlichen Ort zu verankern, aber nicht aufhören können, sich darüber zu wundern - wir teilen diese labyrinthische Empfindung. 

Wer vom Damenkranz in Frankfurt geblieben ist, hört voneinander. Eine ist Schulleiterin geworden. Juli ist Meisterin für Veranstaltungstechnik. Wer hätte je für möglich gehalten, dass auch wir erschlaffen könnten.

„Die Kerle kommen und gehen“, sagt Juli ungewohnt weinerlich, vielleicht auch nur sentimental, „aber wir bleiben Freundinnen.“

Die Feststellung sieht davon ab, dass fast alle Frauen aus dem Damenkranz stabil verheiratet sind. Juli ist seit Langem ohne einen Liebsten. Meine Entscheidung für Christian versteht sie nicht. Zu einer anderen Stunde könnte ich zu ihr sagen, guck dir Britta an. Natürlich würde ich das nie tun. Den kleinen Vorteilen, die jede auf ihrer Seite vermutet, traue ich keinen Elchtest zu. Wir versinken alle und nur unser Stolz und die Freundschaften halten uns soeben über Wasser.

Wir müssen uns begnügen, denke ich. Jede auf ihre Weise. Nach dem nächsten Cognac denke ich: nicht mit mir. Ich bin so schön angezogen. Ich möchte die erste Geige spielen für einen attraktiven Mann. Juli geht mir auf die Nerven. Ich erlebe sie als Koffergeschöpf mit dem seelischen Radius einer Nacktschnecke. „Dass du mal meine beste Freundin warst“, sage ich. „Du bist total konjakt“, antwortet sie. „Ich bin immer noch deine beste Freundin. Dagegen kannst du gar nichts machen.“ 

„Kann ich schon. Schließlich habe ich einen freien Willen.“

Der freie Wille ist ein Running Gag unserer Gespräche. Leonie hatte dem freien Willen am meisten zugetraut. Wenn ich etwas nicht mehr will, dann mache ich was anderes. Daran hatte ich immer schon meine Zweifel - und die Erfahrungen brachten es mit sich, dass Leonie schließlich anfing, ironisch vom freien Willen zu reden. Eine Weile brüteten Vögel in einem Rollladenkasten der Kneipe, die Leonie vor zehn Jahren von einer ‚Frankfurter Legende‘ übernommen hat. Die Legende fiel dann genretypisch tot von einem Barhocker.  

„Was ist das hier?“, fragt Britta blau. „Ein Leben in Erwartung des nächsten Eierbrötchens?“

Gemeinsam erinnern wir uns an einen Jungtechniker, der ständig vom Fahrrad fiel und dabei Narben wie von Kämpfen davontrug. Nachts führten alle Trampelpfade in die Burg. Wir waren immer schon da. Wie ein Leuchtturm stand Leonie über uns. Sie verschränkte gern die Hände hinter dem Kopf. Juli tanzte zu jeder Musik. Ich rauchte mit mir um die Wette und beobachtete die Gefühlsgymnastik der Damenkranzfraktion. Die letzten Maßnahmen des Thekendiensts. Wie ein neuer Müllbeutel von der Rolle gerissen wurde, zum Beispiel. Der Saum auf dem Rund der Tonne. Das Ausfüllen der Stundenzettel. Die Erörterung der Frage, ob ein Handtuch noch zu gebrauchen sei. Dienstpaare separierten sich am Tresen, das war auch so was. Niemand schien mehr ein eigenes Leben führen zu wollen. Alles strömte im Gernegroß zusammen. Wir erlebten ständig wechselnde Moden, nur der Suff und die Männerherrschaft funktionierten als Konstanten.

*

Christian rumort in seinem Arbeitszimmer. Ich frage mich, was diesmal umgefallen ist. Wann er sich zum ersten Mal in meiner Abwesenheit eingenässt haben wird? Ich kann meine Gedanken nicht finden, sagt er jetzt ständig.  

*

Sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung meldet Christians Geburtstag. Er will sich von keinem gratulieren lassen, außer von mir natürlich und von Selma, die ihn am Telefon zum Spaß Papa genannt hat. Sie ist heiß darauf, Mama zu werden. Alle ihre Freundinnen sind das schon und jede andere auf den Straßen im Prenzlauer Berg ist das auch. 

Ich habe Christian eine Breitling Navitimer aus dem Jahr 1965 geschenkt, ich trage gern Männeruhren. Eine Breitling zum Lätzchen, dachte ich, als ich die Bestellung eingab. Christian wird die Uhr nur einmal tragen. Zur Feier des Tages bei Leonie. Christian würde im Schlafanzug auf die Humboldtstraße laufen, wäre er auf sich gestellt. Er trinkt Whisky aus seiner Kaffeetasse, er schlürft ihn wie ein Heißgetränk. Es ist zwölf, ich stelle alle Telefone aus. In diesem Haushalt hat es schon lange kein Mittagessen mehr gegeben, ich bin aber auch schon lange nicht mehr vor elf aufgestanden. Ich kokse mich in Form, mache mir noch einen Kaffee. Christian hat seinen Kuchen nicht angerührt. Er sitzt vor seinem Rechner und spielt Mafia Wars auf Level 1223. Ich soll mir seinen Facebook-Fuhrpark anschauen. Juli chattet mit Christian, das läuft nebenher. Ich schalte mich kurz ein. Im nächsten Augenblick sitzt sie bei uns im Wohnzimmer und raucht meine Zigaretten, bis Christian eingeschlafen ist. Sie zieht mich in die Küche, als wäre das immer noch der ideale Frauengesprächsort. Juli bedient sich, ohne zu fragen, sie ist auch schon beim Chardonnay; ein Produkt von Pio Cesare, einem Winzer des Piemont, dessen Familie seit dem 19. Jahrhundert keltert, in einem Gebäude, dessen Keller aus der römischen Kaiserzeit stammen.

Nicht, dass Juli an den Feinheiten interessiert wäre. Ich könnte ihr auch Aldi-Büchsenbier vorsetzen. 

„Hat Christian dir je erzählt, dass wir mal was miteinander hatten?“, fragt sie. Sie erforscht mein Mienenspiel. Wenn schon, denke ich. Welche Rolle könnte das jetzt noch spielen?

„Warum erzählst du mir das ausgerechnet heute?“, frage ich.

„Weil mir vorgestern aufgefallen ist, dass wir ja alle, wie wir da bei Leonie saßen, schon mal gegengeschlechtlich miteinander im Bett waren.“

„Du und Hannes?“

Das finde ich von Grund auf unfassbar.

„Ja, kurz bevor es zwischen ihm und Ariane richtig ernst wurde. Sie waren schon zusammen, aber. “ 

Ich schließe die Küchenfenstervorhänge, um das Tageslicht zurückzudrängen.

„Plötzlich fing Hannes an zu leuchten. Er war überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen, wie nach einer Metamorphose. Ich fand ihn so sexy.“

„Weiß Ariane davon?“

„Nur, wenn er es ihr gesagt hat.“

Es sollte mir so egal sein. Trotzdem würde ich Juli am liebsten eine runterhauen. Das macht das Kokain mit mir.

Nachschlag des Lebens

Ich helfe Christian beim Anziehen. Er muss gelüftet werden. Dazu ist der Holzhausenpark da. Manchmal schaffen wir es nicht bis dahin, dabei steht unser Haus dem Park sehr nah.

„Wusstest du, dass Juli und Hannes heimlich ein Paar waren?“ frage ich Christian auf der Schwarzburgstraße.

„Ich erinnere mich“, sagt Christian. „Zu der Zeit warst du Technikerin. Du warst die schönste Theatertechnikerin der Welt.“ 

Ich war auch schon die schönste Postbotin und die schönste Romanistik-Studentin von Frankfurt. Ich ziehe Christian über den Oeder Weg. Ich muss unbedingt einen Zahnarzttermin für ihn ausmachen. Leute grüßen den berühmten Mann und seine Frau. Jemand spricht Christian auf seine Würdigung in der FAZ an und kritisiert Details. Früher wäre Christian an so einem Wichtigtuer vorbeigerauscht, nun lässt er sich bedrängen. Ängstlich sucht er meine Obhut. Ich fasse seinen Arm, erleichtert deshalb, weil ich immer noch Zärtlichkeit für den Mann aufbringen kann. Es widerstrebt Christian weiterzugehen. Am liebsten würde er sich sofort in die geruchsvertraute Dunkelkammer begeben, die Leonies Kneipe für ihn ist. Eine Entenpatrouille lenkt ihn ab. „Woher wusstest du das mit Hannes und Juli?“

„Von Juli“, antwortet Christian präzise.

„Sie hat dich getröstet, nicht wahr?“

„Sie behauptete, ich würde im Schlaf nach dir rufen, und sie ist auf Unterschiede zwischen dir und ihr herumgeritten. Sie war davon überzeugt, dass ich sie im Grunde meines Herzens abstoßend fand. In Wahrheit war nur ich für sie eine Enttäuschung. Nicht zuletzt deshalb, weil ich mich mit ihr nicht zeigen wollte.“

Mir fällt ein Wort ein, dass einfache Typen für Juli hatten. Saftig. Sie sei so saftig, sagten die Holzköpfe. Wir kehren um, auf der Flucht vor einer Kitaherde. Die zur Betreuung bestellten Frauen sehen zerzaust aus. Armut macht Haare strohig. Ich sage: „Du hast in meiner Umgebung gewildert, als ich dachte, du seist viel zu verliebt in mich, als dass du dich auf eine andere Frau einlassen könntest.“

„Ich empfand meine Liebe zu dir als Fluch und hoffte, jemand könnte mich davon erlösen. Ich fühlte mich wie ans Kreuz genagelt, bloß ohne eine Maria Magdalena zu meinen Füßen. Ich war ein Wundermann mit eimertiefen Wunden und fürwahr dankbar für jede persönliche Note mit einem weiblichen Adressaten.“

Nachschlag des Lebens

Leonies Kneipe ist noch nicht geöffnet, wir ruhen unter der Säuferampel aus.

„Wenn ich Juli richtig verstanden habe, dann war auch etwas zwischen dir und Leonie.“

„Du hast Juli richtig verstanden. Mir kam die Burg damals wie das Revier einer Mäusekolonie vor, die auf dem Theaterboden nachts fündig wurde. Das war so eine Körperkontaktstelle.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leonie dich angemacht hat.“

„Hat sie aber. Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie sie auch sein kann.“

Christian war lange nicht mehr so munter. Wir haben so viel über unseren Sex geredet und uns doch einiges vorenthalten. Ein Nachschlag des Lebens ist das, ich werde Christian noch gründlich befragen. Hannes öffnet die Tür, er könnte sich öfter rasieren.

„Wie schön, euch zu sehen“, sagt er und meint damit nur mich. Hannes und ich stehen uns einmal wieder bevor, soviel steht fest. Er gratuliert Christian. Leonie kommt aus der Küche, das Haar straff am Kopf. Wir prüfen gegenseitig unsere Verfassung und entscheiden auf alles in Ordnung.

„Meine Liebe“, sagt sie. Ihre Lippen sind spröde, obwohl ich sie niemals ganz vor mir haben könnte, ohne einen Lippenpflegestift in der praktischen Handtasche, bei der Handcreme. Und immer zuerst einen Fettfleck auf den Handrücken, die Zeigefinger ziehen ihre Kreise abwechselnd. Mir fällt ein, wie ich Leonie zum ersten Mal ohne den Ring erlebte, den Texas für sie bei einem Goldschmied am Oeder Weg gekauft hatte. (Von Texas war schon mal die Rede, aber nur am Rand.) Dann füllte sie auch seinen Stundenzettel nicht mehr aus und nahm sein Zeug nicht mehr mit zu den Personalhaken.

„Meine Liebe“, sage ich. Ich drücke meine Nase an ihren trainierten Hals. Christian sitzt schon, zur Feier des Tages darf er im Lokal rauchen, bis das Geschäft richtig losgeht. Ich folge Leonie in die Küche und sehe ihr beim Schnippeln zu. Ausgerechnet Hannes hat aus ihr eine komplette Köchin gemacht, ihr die Tütensuppen im Besonderen und das schnelle Mahl im Allgemeinen abgewöhnt.

„Wollt ihr zeitig essen?“, fragt sie.

„Auf keinen Fall“, antworte ich.

Den abgespeisten Christian zieht es zügig auf die Couch. Ich kann mir etwas Schöneres vorstellen.

„Ich habe heute erst erfahren, dass Christian sogar dich erfolgreich angegraben hat.“

„Warum hätte das nicht geschehen sollen?“ sagt Leonie einfach. „In der Erinnerung erscheint mir unser Kreis mit dem Kranz und den Männern organisch. Wir waren so aufeinander fixiert und Christian war der unglücklichste Fuchs im Hühnerstall. Ich mochte seine räuberische Art. Ich dachte, er könne auch im Bett nicht aufhören, an dich zu denken. Aber so war das nicht.“

„Warum hast du mir das nie erzählt?“

Leonies Achseln zucken. Das heißt: Geh mir nicht auf die Nerven mit dem alten Scheiß. Was soll das jetzt noch?

„Ich wollte dir nicht zu nahetreten“, sage ich.

„Drehst du mir eine Zigarette?“ fragt Leonie. Wir rauchen an der offenen Küchentür. Ein idyllisches Hinterhofpanorama mit flammend roten Weinranken auf einer Brandmauer bietet sich als Kulisse an. Ich nehme mir vor, ein Stück mit dieser Szene zu schreiben und es Christian zuzuschreiben.

„Ich habe noch was gut beim Leben“, behaupte ich.

Dazu sagt Leonie nichts. Die Aushilfe für diesen Tag meldet sich zum Dienst. Ein Mädchen, das mich an Tine erinnert. So licht und busenwolkig ist sie. Leonie wirft den Motor ihrer Freundlichkeit an. Ich setze mich zu Christian. Er ist auf Zack, die Bedienung gefällt ihm. Hannes lässt mich nicht aus den Augen. So soll es sein. Ich moussiere in Erwartung und Erinnerung. Die Koteletts kommen. Christian isst mit den Händen, sein Tremor greift um sich. Er war länger jung als alle, nun ist er unheilbar der Älteste. Ich suche mein Mitgefühl.

Leonie legt Christian eine Hand auf die Schulter. Fragend sieht er zu ihr auf. Ein Tablett entgleitet der Bedienung. Bruch auf den Dielen. Im Radio läuft ein Lied von Jim Croce - ‘You Don't Mess Around’. Das habe ich zum letzten Mal vor zwanzig Jahren gehört. Hannes hört HR3. Er achtet auf Nachrichten, orientiert sich am Wetterbericht. Er stellt sich auf Dinge ein. Das hat Christian nie getan. Die Dinge verformten sich in seiner Wahrnehmung. In seiner Wahrnehmung gestalteten sie sich um, als er noch die Kraft hatte.

Hannes fegt die Scherben zusammen, er lädt sie auf ein altes Kehrblech. Es lässt mich an eine Kohlenschaufel denken; an den Ofen im Gernegroß, der dann von einer Zentralheizung ersetzt wurde.

Die Aushilfe entdeckt keine Anzeichen von Verärgerung bei Leonie und Hannes. Was ist nicht schon alles zu Bruch gegangen und schiefgelaufen. Davon kann sich die Aushilfe noch keinen Begriff machen. Die Chefin beruhigt das Küken mit einem Stimmungsaufheller. Das ist ein Espresso mit Birnenschnaps. Ich kriege auch einen, den Zucker rührt Hannes hausmeisterlich hinein. Jetzt ist er der Steuermann unserer Arche. Ich werde ihn bitten, Sachen aus dem Keller in meine Wohnung zu tragen. 

*

Christian sitzt im Schlafanzug auf der Couch. Ich werde morgen das Gästebett für ihn beziehen. Bedenkt man, dass ihm das Haus gehört, in dem unsere Wohnung liegt, ist ein Umzug ins Gästezimmer auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass das letzte Hemd keine Taschen hat.

Ich gebe ihm eine Schlaftablette. Ich frage: „Welche Frau hat dich nach mir am meisten beeindruckt?“

Christian hört mich nicht. Er verläuft sich wieder in seinem Schattenreich. Auch wenn das von der Realität seines Lebens gewiss nicht gedeckt ist, soll Leonie diejenige sein: in der Erzählung, die mir vorschwebt. Ihre Erhabenheit in einem Zustand ewiger Beschränkungen will ich ergründend überliefern. Sie schwebte mir schon vor, als ich mit sechzehn meine erste literarische Figur erschuf. Wie man von Grund auf enttäuscht gern am Leben bleibt, will ich erzählen. Ich mache mich gleich daran, in Christians Arbeitszimmer. Ich versetze mich in seine Lage. Er kommt ins Gernegroß. Mich weiß er in der Ehe mit Scott. Vielleicht reden Scott und ich gerade über Scheidung. Es ist um Mitternacht, das ist es immer. Leonie legt eine CD von Junior Brown in den Abspieler, Hannes zuliebe. Eben ist der letzte Schauspieler gegangen. Gut so. Vom Damenkranz sind außer Leonie nur noch Tine und Britta da. Zwei Techniker trinken Wodka. Hannes führt einen Kriegstanz auf, wie aufgezogen.

Christians kaum verschattetes Interesse an allen Frauen.

Lautlos fauchende Löwen

Zwar stammen die Aufzeichnungen aus dem zur Publikation bestimmten Nachlass von Christian C. Czernin, verfasst jedoch hat sie Stefanie Czernin, geb. Weißkopf geschiedene … geschiedene … geschiedene … Stets nahm sie den Gattennamen an, so als käme sie damit auch mental aus ihrer Geburtshölle. Bisher kannten Sie Stefanie nur als namenlose Ich-Erzählerin. Sie fälscht das geistige Erbe ihres an frontotemporaler Demenz erkrankten Ehemannes, der in seinen guten Zeiten außerordentlich erfolgreiche, weltweit bejubelte Theater- und Filmregisseur CCC. Stefanie unterschiebt dem Womanizer alles Mögliche, unter anderem eine tiefgreifende Beziehung zu ihrer Freundin Leonie.

Im Präsens der Vergangenheit

Barchefin Leonie fühlt sich wohl mit den Männern an ihrem Tresen. Sie hat den ganzen Tag gearbeitet … drei Jobs, aber kein Auskommen … sie muss morgen früh raus. Aber im Augenblick stehen die Mühlräder still. Dies ist die Stunde des Glimmers und der nachrangigen Wölfe. Die lautlos fauchenden Löwen der Bestimmer-Riege sind geschlossen abgerückt. Man besucht einen befreundeten Rivalen. An den Rändern der Freundschaft vernimmt Leonie Geräusche wie von einer aufbrechenden Eisdecke. Christian hört das auch. Auf einem Kellnerblock hält er das Wort Tektonik fest. In den Falten des Verhaltens fahndet er nach Poesie. Eine vergessene Hand auf dem Tresenholz. Vom Rausch aufgeräumte Gesichter. Die Sensationen des Lichts. Christians mörderische Konzentration auf die Nebengeräusche der Gespräche und die Sidekicks des Gebarens trennen ihn von allen. Die anderen Männer wehren Christians Grandiosität mit Ironie ab. In diesem Kreis wird Christian von seinem Ruhm herabgesetzt. Die Wölfchen knurren, aber sie beißen nicht. Sie sind an Einflüsse gewöhnt, an Kunstwillen, Attitüde, Arroganz, fade Theatralik und die Pleitegeier auf den Schultern der Darsteller. Sie sind sich ihrer Sache sicher. Christian sieht sie als Hüter - und Leonie unterscheidet sich von anderen Theaterfrauen in ihrer Zugehörigkeit zum Hüter-Bund. Sie wendet sich Christian zu, sie spielt mit ihrem Haar so rapunzelig. Die Körper streifen sich. 

Christian hat zwei Pressekarten für ein Santana-Konzert. Steffi ist nicht erreichbar. Er fragt erst Tine, die besonders viel für ihn übrighat. Da ist eine Verbindung, noch ungetestet in ihrer Spiralität. Die beiden betrachten sich allezeit mit Wohlwollen und Behagen. Ihre Blicke ruhen aufeinander. Aber zurzeit ist Tine von einem Engländer besetzt. Er ist ihretwegen nach Frankfurt gekommen und hat sich so Exklusivität erworben. Tine und ihre Briten - auch das ist ein Roman. Tine glaubt, besser auszusehen, wenn sie Englisch spricht.

Leonie ist dritte Wahl. Sie nimmt sich für den Abend frei im Gernegroß. Sie freut sich, zieht Stiefel an. Entscheidet sich für die kurze Lederjacke mit dem „dementen Reißverschluss“ – so reden Gernecrossies. Sie beschallt den Raum ihrer Vorbereitung; den Raum ihrer Wohnung, sieht man von der Küche ab. Die Anlage scheppert. Leonie hört Willie Nelson und Element Of Crime ... Michaela sagt. Christian holt sie ab, mit dem Taxi fahren sie nach Bockenheim in den Tannenbaum. Leonie hält Christian für einen Lebemann, mit allenfalls flüchtiger Bindungsbereitschaft. Affären waren ihr auch schon mal eine Weile das Liebste. Sie braucht jemand, bei dem sie sich ihren aktuellen Ex aus dem Kopf schlagen kann. Christian fragt, was sie trinken will. Bier ganz klar. Im Tannenbaum immer nur Bier. Leonie lädt Christian zum Kickern ein, Tischfußball kann sie auch. Man könnte mit ihr außerdem flippern und Billard spielen. Leonie kennt alle Kneipenspiele. So ausgelassen erlebt man sie nicht oft. Christian fühlt ihr auf den Zahn, sie dreht ihm eine lange Nase. Eher wird sie sich heute Nacht noch vor Christian ausziehen, als etwas von sich preiszugeben. In einer bewirtschafteten Bucht der Festhalle hält Leonie zum ersten Mal Christians Hand. Er ist so gescheit, die Klappe zu halten. Sie küsst ihn dafür auf der Freitreppe der Rotunde. Die wichtigen Leute trinken auf Kosten des Veranstalters. Christian genießt Privilegien, Leonie stößt sich an Sonderrollenspielern. Sie erkennt Otto Sander.

„Der hat dich gegrüßt“, sagt sie.

Christian zieht sie wieder auf die Ränge, er hat so viel für seine Anerkennung getan. Nun zwingt ihn Selbstachtung zu vorgetäuschter Gleichgültigkeit.

Leonie ist keine Kulturbetriebsmaus. Er kann sie nicht blenden, das weiß Christian. Er lotst sie in Jimmy´s Bar, da gibt es König Pilsener. Warum auch nicht? Leonie folgt Christian in seine Wohnung, um jederzeit aufbrechen zu können.

„War doch so abgemacht“, sagt sie. „Du hast die Braut an Bord. Von mir aus müssen wir jetzt nicht fackeln.“

Nach einem Präservativ fragt sie erst gar nicht. Sie streckt ihre Arme zur Bettkante, wie bei einem Startsprung. Sie freut sich über die vielen Bücher im Zimmer. Christians Wohnung gefällt ihr. 

Minimales Erdbeben

Die Tage gleichen sich aufs Angenehmste. Doch hinter jedem Busch lauert eine Hyäne der Vergänglichkeit. Xuan kreuzt mit den Drogen für die kommende Woche auf. Der Nachfahre eines Dschungelkriegers des Việt cộng, der auf den Pfaden der sozialistischen Bruderhilfe via Rostock und Kasernierung nach Ahrenshoop gelangte und da zu einem Handlanger der Ostsee-Mafia - den Panntjefiskes - avancierte, landete im Zug der deutschen Einheit in Frankfurt am Main.

Ich biete Xuan Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer an. Wir plaudern über Bücher. Xuan liest zurzeit alles Erreichbare von Arno Schmidt.

Marcel Reich-Ranicki äußerte sich so selten wie gründlich über Arno Schmidt. 1967 brachte er in dem Radioessay „Eine Selfmadeworld in Halbtrauer“ Schmidts Selbststilisierung auf den Punkt.

„Das Gehirntier. Das Genie. Der Solitär. Der Einsiedler. Vor allem aber: Der Verkannte! So stellte sich Arno Schmidt Zeit seines Lebens dar. Schmidts Bücher waren immer greifbar, zum Teil in edlen Ausgaben. Er heimste Preise ein, fand Gönner, und auch vom Radio kamen Angebote zuhauf. Arno Schmidt war lange Jahre das Lieblingskind der bundesrepublikanischen Redakteure. Quelle:

Xuan bedenkt Ranickis Abwehr eines Schriftstellers, der sich zwar antimilitaristisch gerierte, aber doch viel mehr noch als die 1947er um Hans Werner Richter mit ihrer Alibi-Aichinger und der idiosynkratischen Ingeborg B. in den Knobelbechern der Wehrmacht steckengeblieben war. Xuan zerpflückt den Heide-Solipsisten mit seiner krachledernen Rhetorik und Rumpelerotik.

Bei Schmidt tauchen „begatten“ und „koten“ in einem Satz auf. Da schwingt sich ein Literatur-Tarzan von Ast zu Ast, wenn auch in einem längst vergangenen Präsens. Xuan überlegt laut, welcher ostdeutsche Schriftsteller der DDR-Schmidt war. Er verliert den Faden, wie so oft in letzter Zeit. Er taumelt und trudelt in die Gedankenlosigkeit. Das ist ein gefährlich leerer Raum. Siehe Christian. Nach Xuans Abgang widme ich mich wieder der Verfälschung seines geistigen Erbes, während der gestürzte Riese still vor sich hin röchelt. Ich bin so an das Geräusch gewöhnt, dass ich es nicht mehr bewusst wahrnehme. Es stellt keine Störung mehr dar. Die an seinen Mundwinkeln austretenden Speichelfäden lösen keine Empfindungen mehr im Spektrum des Ekels aus; obwohl es mich immer noch beinah täglich ganz leicht erschüttert, dass diese Urgewalt und Verkörperung männlicher Dominanz so auf den Hund gekommen ist. Sabbernd im Schlafanzug, bedürftig wie ein Säugling. Saufend statt saugend. Ja, Christians Niedergang löst jeden Tag ein minimales Erdbeben aus. Die physische Regression liefert ein schreckliches Schauspiel.

Im Raum steht die Frage, wie würde Christian entscheiden, könnte er über seine Lage hinaus handeln. Dass er sie temporär realisiert, steht für mich außer Frage. Er verhehlt mir die Einsichten, die er in luziden Momenten gewinnt, und die sich, glaube ich, in ihm abspeichern, so dass er vermutlich in fast jedem Augenblick sich als das begreift, was er ist. Und ich bin seine ruchlose Elisabeth Förster-Nietzsche. Ich fälsche und verfälsche so lustvoll wie bei gutem Sex. Es macht Spaß, der Nachwelt einen Bären aufzubinden, sie an der Nase herumzuführen und auf falsche Fährten zu setzen. 

Zurück zur Verfälschung von Christians Aufzeichnungen

In der Gegenwart eines schwungvollen Damals - Christian C. Czernin, kurz CCC, steht im Zenit seiner Schaffenskraft. Er ist weit und breit der einzige mit internationalem Radius. Trotzdem verbringt er die meiste Zeit im Dunst regional und lokal agierender Zwerg-Alphas. Im Augenblick genießt Christian die Gunst der Gernegroß-Barchefin Leonie.

Wie sieht sie ihn? Für Leonie ist Christian ein Typ, der gelegentlich gute Idee hat und grundsätzlich über seine Verhältnisse lebt. In ihrer Wahrnehmung steht er schon auf verlorenem Posten, in seinem Stalingrad der zweiten Lebenshälfte. Bei ihm fühlt sich Leonie ganz und gar verborgen. Sie lehnt sich gegen sein Verständnis auf. Sie kappt die Tentakel eines rudimentären Mitgefühls. Sex ja. Seelenschmusen nein. Seine verbohrte Liebe zu mir findet Leonie lächerlich. Christian ist bloß ein verdrehter Knopf. Sein Wille zur Distinktion kommt bei Leonie als Ausdünstung an. Christian scheint ständig in einen Spiegel zu schauen, obwohl er sich so uneitel trägt.

„Ich kaufe uns ein Taxi nach Hause", sagt er.

Leonie summt: „Komm doch liebe Kleine, sei die Meine, sag nicht nein."

Es ist einfach rätselhaft zu bleiben, wenn der andere nur sich selbst sieht, denkt Leonie. Das ist ihr Irrtum: zu glauben, dass Monomanie mit Empathie sich nicht verträgt. Sie übernimmt ständig mehr Aufgaben. Sie leitet die Herden an ihren Arbeitsplätzen, mit stutiger Lebhaftigkeit. Nachts fährt sie zu Christian. Sie fliegt mit ihm nach Wien, um eine Premiere zu sehen. Er schenkt ihr ein Kleid. Leonie trägt es nur einmal.

„Ich bin niemandes Eliza", sagt sie.  

Könnte sich Christian nur mehr für ihren Trotz erwärmen.  

Revenge Lyrik

In den Feuchtgebieten der Organisationsform Familie sumpfen ursprünglichste Informationen. Man staunt, wie klein jene Gruppen waren, die unseren Anfang im Jungpleistozän überlebten. Nomadische Beutemachergemeinschaften betrieben (waffenlose) Ausdauerjagd nach dem Prinzip andauernder Beunruhigung. Man scheuchte das Wild, bis es sich der Erschöpfung ergab. Heute noch hetzen isolierte Ju/'Hoansi-Gruppen im Nordosten Namibias Tiere zu Tode.

„Die besten Menschen bewahren sich einen nackten Hintern", glaubte Paul Theroux. Die „goldfarbenen" Ju/'Hoansi erschienen mit asiatischen Zügen in ihren angestammten Verbreitungsgebieten als Nachfahren von Migranten. Man weiß nicht, wen sie verdrängten, doch kennt man ihre europäischen und indigenen Verfolger. Sie überlebten in Vermeidung schwerer Auseinandersetzungen als Spezialisten für trockene Gebiete, um nun in Fetzen aus deutschen Altkleidersammlungen an Stadträndern zu verelenden.

An einem Tag vor zwanzig Jahren

Ich habe für den Damenkranz meine Wohnung aufgeräumt. „Haushalt macht mich wahnsinnig“, sage ich.

Leonie kifft in meiner Küche. Das gute Gras aus Güstrow.

„Man muss sich Putzen als meditative Aufgabe vornehmen“, behauptet Leonie. Ihre Präzision beim Stricken und bei der Betreuung der Personalherden an ihren Arbeitsplätzen. Ich werde mich einmal wieder scheiden lassen. Ich habe einen Mann kennengelernt, mit dem ich mir viel vorstellen kann. Der Stammzellenforscher ruft an, bald werde ich auch für ihn keine Zeit mehr haben. Der Damenkranz formiert sich. Es gibt Sekt als Formalität. Antje ist endlich schwanger geworden. Marion tritt demnächst ihre erste Stelle an. Leonie und ich helfen, wo wir können.

Zwanzig Jahre später - An Christians Schreibtisch rauche ich eine Zigarette zur falschen Tageszeit. Christian schläft, ich habe eine Tablette in seinem Frühstückswein aufgelöst. Ich schreibe Leonie den Satz zu: „Vielleicht wären wir uns nähergekommen, hätten wir uns eine Zeit lang nicht mehr gesehen.“

Leonie erwartete noch einiges vom Leben, mit anderen Männern, in anderen Städten oder lieber noch auf dem Land. Sie wollte einen Hund, sich dem allgemeinen Wahnsinn im Wald und auf der Heide entziehen. Ehrgeiz war eine Krankheit für sie.

„Guck mich nicht so an“, sagt sie in meiner Geschichte zu Christian, der seine Konzentration sucht, indem er ihr auf den Hintern starrt.

Christian entgegnet: „Ich dachte, ich hätte gar kein Gesicht mehr zum Gucken.“

Er wendet sich ab, bleibt aber sitzen. Er schmunzelt und lacht jetzt oft über das Leben. Ihm bleibt nichts anderes übrig. Endlich verzieht er sich ins Gernegroß. Inzwischen ist die von ihm lange geschmähte Kleinkunstbühne für Christian ein öffentlicher Schutzraum, in dem ihm keine größere Gefahr droht als die Verachtung der Ahnungslosen. Antje kackt ihn an. Sie ist unsere Jüngste, das Nesthäkchen. Sie trägt die Haare wie ein Filmstar in den 1940er Jahren. Sie unterliegt dem Zwang, Christian nachzuäffen. Sie zettelt kleine Aufstände gegen ihn an.

Sie schneidet Gesichter, Juli fotografiert sie. Babu ist bei dem minimalistischen Sound und der flachen Instrumentierung der Ramones. Tine wird ihr Dekolleté peinlich. Sie zieht an den Fasern. Die Fasern widersetzen sich dem Zug.

*

Leonie bespricht ihr Liebesleben nicht. Von ihr kriegt Christian überhaupt nichts zu hören. Sie ist in Ablehnung mit ihm verbunden. Sie schläft mit einem Angeber.

„Erspar mir deine Einbildungen", sagt sie. „Ich bin nicht wie deine anderen Frauen."

Christians Leiden an mir interessiert Leonie nicht. Sie hält das Leiden für eine Erfindung. - Um weiterzukommen. Um zu Text zu kommen. Fast schon allergisch sind Leonies Reaktionen auf diesen Liebhaber. Leonie interessiert auch die Hierarchie der Spezialgläser im Gernegroß nicht. Wein wird aus einem Weinglas getrunken und gut ist. Leonie sympathisiert mit jedem Normal. Bloß keine Überhöhungen. Vor dem Donnerwetter der Selbstüberschätzung schreckt sie zurück. - Und doch geht sie weiter als andere, auch das liegt in ihrer Natur. Das Paar sitzt am Tresen im Gernegroß. Der Rauch hängt spiralig unter den Lampen. Die Luft ist verbraucht. Wer die Lufthoheit hat, bestimmt die Musik. Also hören wir The Clash. Konzerte werden besprochen, Verabredungen getroffen. Alles ist kurz vor Verzweiflung und doch ungemein lustig.

Der Raum kühlt aus. Morgens um halbvier ist es eiskalt in dem kleinen Theater. Gerade geht es darum, wie am Amazonas Pfeilgifte gewonnen werden. Babu bringt den Phyllobates terribilis ins Spiel, bloß will von ihm niemand etwas wissen. Die Belegschaft stolpert durch ihre N 24-Kenntnisse. Britta turnt auf dem Tresen. Tine packt ihren Kram zusammen.

„Gehst du schon?" fragt Leonie.

„Sehen wir uns morgen?" fragt Nasenschweiß. Er wendet sich übertrieben an die Gemeinde: „Es soll auch noch getrunken werden."

Babu überhört einen Witz auf seine Kosten. Lang her, dass seine Musik hier gespielt wurde.

„Der ist schmerzfrei", sagt Ibu über seinen Kopf hinweg, als sei Babu blind und taub. Babu scheint sich in seiner Pariarolle eingerichtet zu haben. Britta fühlt sich vernichtet. Das ist ihr Zustand ohne Ausweg. Da hilft keine Psychologie und nicht die von Gleichgültigkeit gesicherte Rücksicht der Vielen. Die Rücksichtslosigkeit eines Einzelnen überschattet jeden Trost. Als drastischer Liebhaber schlich sich Gero in das Leben einer für Metaphern Empfänglichen. Er meldet nun der Welt das verblassende Arschgeweih einer Frau, die kaum auf sich achtet. Er macht Kneipenprosa aus der Person, die ihm so und so erschien, jedenfalls anders, als sie ihm erscheinen wollte. Trotzdem soll Gero zurückkommen, wenigstens in Momenten. Britta stellt ihn sich auf einer Wallfahrt nach Canossa vor, wo sie ihren (gelernten) Metzger mit gemischten Gefühlen erwartet. Sie erfindet sich eine Macht, die ihr Gero gefesselt und verdroschen zuführt. Sie erschießt sich vor seinen Augen, um ihn für sich zu interessieren.

Als Furie versagt Britta. Jeder im Gebiet (dem Nordend) kennt die Geschichte, die im Mantel des wiederholten Liebesscheiterns zur Geschichte ihres Lebens werden wird. Britta wehrt sich mit Revenge Lyrik auf Kneipenklowänden. Ihre Poesie befestigt kaum eine poröse Verteidigungslinie. Britta bleibt in ihrem Seelenverhau Opfer und Objekt. Sie splittert unglücklich freidrehend im falschen Azorenhoch von mother's little helper. Sie putzt Kacheln der Verzweiflung, sie versichert sich der glänzenden Aussichten eines Lebensabbruchs. Sie fürchtet ihre Verwandlung in eine Arabeske. Sie denkt ihre Gebärmutter mit Unerfreulichem zusammen. Sie hasst ihre Scheide, den Ausfluss, die Gerüche.

Britta erlebt die Etappen eines Zusammenbruchs als Ausdauerleistung. Der Mangel an Mitteln frappiert. Die Mutter griff früh zu Fertiggerichten, die Sachen schmeckten besser als alles Hausgemachte in seinen Halbfertigsoßen. Die Frau berücksichtigte Vorlieben beim Einkauf auch der Freunde ihrer Tochter. Man dankte es ihr mit gemeinen Zuschreibungen, wie gesagt. Britta erwähnt gewaltige, ständig aufgestockte Vorräte, Theaterbesuche in großer Besetzung mit anschließenden Festessen, häusliche Filmabende, die in der Küche endeten, Vorträge in Wohnzimmern voller Sitzkissen, nach einem Fondue oder ungezählten Toast Hawaii. Gernegroß-Direktor Nasenschweiß begehrt Britta auf einer Schautreppe der Anteilnahme. Zugleich beweint er die Kochallüren seiner totalitären Mutter. Immer alles frisch. Nichts aus der Dose. Saisonal & regional. Wurzelgemüse. Löwenzahnsalat. Die Nudeln hausgemacht. Das Schwein liebevoll abgeschlachtet.

Nasenschweiß betete zum Kopfballungeheuer Horst Hrubesch, wenn nach dem fünften Teller Wurstsuppe die Blase bei striktem Aufstehverbot zu platzen drohte.