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2025-02-03 09:10:08, Jamal

Brutale Dekadenz

Eines Tages verkündet Inge: „Ich komme dich bald mal besuchen. Ich hoffe, du wohnst zumutbar für eine Frau mit Ansprüchen.“

Ich verkleide meine Verwunderung: „Du kannst doch nicht einfach so in den Westen.“

„Kann ich doch.“

Inges du-hast-doch-keine-Ahnung-Lachen, aber davon jede Menge, kenne ich gut. Sie kann anschmiegsam und kratzbürstig wie in einem Atemzug sein. So bodenständig wie hochgestochen. Inge kann mehrstöckig um Verzeihung bitten und im nächsten Augenblick unerbittlich auf einen Fehler oder eine schwierige Eigenschaft (zum Beispiel Rechthaberei) bestehen - und zwar direkt nach einem Bedauern dieser Eigenschaft. Sie beschwert sich in einem Café in der Lychener Straße ausführlich über Nico (ihren Mann), sie fällt über ihn her, nennt ihn rücksichtslos und gleichgültig, dann sitzen wir bei ihr Zuhause in der Küche, Nico kommt von der Arbeit aus der Uni, jedenfalls glaube ich das, und Inge fällt ihm um den Hals und kann gar nicht genug kriegen von ihm. Während ich blöd da sitze. Ich baue solche Szenen nicht aus, aber ich kann Ihnen sagen. Zwei Wochen nach der Ankündigung steht Inge in Westklamotten bei mir in Westberlin vor der Tür und salutiert.

„Für Frieden und Sozialismus immer bereit“, verkündet sie anzüglich. Inge stellt eine Kameratasche ab. Sie inspiziert die Wohnung, mokiert sich.

„Du hast keine Freundin?“

Ich falle aus allen Wolken. „Ich dachte, du!?“

„Ja, schon, ich bin deine Ostperle, eingesperrt in der Zone, aber was ist mit einer Westbraut für jeden Tag?“

„Davon hätte ich dir erzählt.“

„Genau, du bist ja so einer.“

Inge kennt sich in Westberlin aus, wer hätte das gedacht. Wir fahren in den Wedding, Inge will da jemanden treffen. Sie weiht mich nicht ein. Der Kontakt kommt in einem Imbiss zustande. Inges Kontaktmann hat eine Currywurstfresse und einen Wanst, für den er zu jung und in seinem Kern auch zu athletisch ist. Ein verkommener Sportler erzählt uns von illegalen Hundekämpfen. „Schreib nicht meinen Namen und wo der Kampf war“, verlangt Inges Informant. Ein Typ schleimt an, der Informant schreibt was auf einen Schmierzettel, hier ist alles schmierig. Der Schleimer verschwindet mit dem Zettel.

Inge recherchiert für einen Artikel über „verbotene Hundekämpfe in Westdeutschland“. Sie soll die Verrohung bundesrepublikanischer Sitten anprangern. Das macht sie gern, Inges Informant führt uns in einen Hof, auf dem Männer, Marke Zuhälter, rauchen. Nicht alle sehen aus wie Zuhälter, aber alle verbreiten den Charme der Gebrauchtwagenmärkte. Inge und ich müssen unbedingt unangenehm auffallen, es scheint sich trotzdem keiner an uns zu stören. Irgendwie sind wir akkreditiert. Einmal legt Inge eine Hand in meine eine und lächelt mich süß und verheißungsvoll an. Ich entdecke keine Spur von Unruhe bei ihr. Zwei Stunden später sitzen wir in einer Kreuzberger Kneipe, essen von einem Teller, da wir uns so lieben, ich habe Inges Schenkel auf dem Schoss. Sie hat ihre Schuhe abgestreift, die Zehen wackeln bis zum Nebentisch. Deshalb macht keiner ein Fass auf. Wir sind da, wo locker großgeschrieben wird. Ich bin verwirrter als normal, weil Inge vollkommen kaltblütig blieb beim Hundekampf. Zwei aufgestachelte Pit-Bull-Mischlinge mit extrascharf geschliffenen Zähnen (sechs Zentimeter lang) wurden in einem Keller aufeinander gehetzt. Im Wetttopf waren sechzigtausend Mark. Wie im Boxring war ein Gong das Kommando für die Herrchen, ihre dreißig Kilo schweren Hunde loszulassen. Die Leiber krachten zusammen, die Zähne rissen sofort Wunden. Eine Bauchdecke klaffte auf, im ersten Anlauf. Das überlegene Tier schnappte nach der Kehle des Unterlegenen, sein Besitzer zwang ein Stück Holz in das Siegermaul. Die Hunde kosten dreitausend Mark, ihr Preis hält sie am Leben. Das sind Kreuzungen zwischen englischen Bullterriern und Staffordshire Terriern. Inge hat sie fotografiert, den Stolz des Siegerhundbesitzers durfte sie nicht dokumentieren. Keine Aufnahmen von Personen, hieß eine Verabredung. Wie solche Verabredungen zwischen Ost und West zustande kommen, bleibt rätselhaft. Die Aufklärerin Inge klärt mich nicht auf. Die Auswüchse des Kapitalismus regen sie nicht auf. Sie sind systemimmanent.

„Warum hast du mich mitgenommen?“

„Weil ich wissen wollte, ob du kotzen musst, wenn du so was siehst, und ob du danach was runterkriegst.“

Inge füttert mich mit Nudeln. Keine Sphinx kann opaker sein.