„Die nie greifbare Realität des Lebens, einer Existenz. Berühre sie & sie zerfällt, übrig bleiben Fiktionen, Legenden, Formeln..." Jürgen Ploog
„Ploog, West End“ - Texte von und über Jürgen Ploog
Der Sammelband eröffnet einen vielstimmigen Zugang zu einem Schriftsteller, der wie kein anderer für die deutsche Spielart des Cut-up steht. Ploogs Texte sind assoziative Transitprotokolle, seine Bilder ein Archiv körperlicher Intensität, seine Sprache ein Sensorium für Grenzzonen zwischen Realität und Halluzination.
Wolfgang Rüger und David Ploog, die Herausgeber von „Ploog, West End“, gelingt mehr als eine Werkschau. Der aufwendig gestaltete Reader versammelt erstmals bislang unveröffentlichte Materialien aus dem Nachlass: Tagebuchauszüge, Briefe, Collagen, Fotografien. Dazu kommen Erinnerungen von Weggefährten und literarische Reflexionen jüngerer Autoren, die Ploogs Werk neu vermessen.
Wolfgang Rüger, David Ploog, „Ploog, West End“, Westend Verlag, 347 Seiten, 25,00 €
Trotz gelegentlich fast ehrfürchtiger Tonlagen liefert die Sammlung ein erstaunlich lebendiges Porträt. Sie zeigt Ploog nicht nur als stilistischen Einzelgänger, sondern als figurativen Knotenpunkt einer literarischen Strömung, die sich lange unterhalb der Kanonschwelle bewegte - und heute eine neue Bewertung mit Renaissancecharakter erfährt.
Für alle, die sich mit der Geschichte der literarischen Avantgarde im deutschsprachigen Raum beschäftigen - oder den „Solitär des deutschen Undergrounds“ zum ersten Mal entdecken wollen - ist die Publikation mehr als ein Einstieg, denn sie bildet ein poetisches Kompendium aus Sprache, Bild und Erinnerung, das Ploogs multimedial-anarchisch-kultivierten Zugriff auf Text, Welt und Körper eindrucksvoll überliefert.
Visionär der inneren Astronautik und Vorreiter einer poetischen KI-Diskussion
Als Cut-up-Autor befragt er das dualistische Weltbild und den linearen Zeitbegriff. Für Jürgen Ploog sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht fixe Realität, sondern flexible Fiktionen, die sich schreibend erkunden lassen. Ploog bezeichnet das Schreiben selbst als „Ausloten des inneren Kontinents“ - eine Metapher für das Erfassen innerer Bewusstseinsräume, die in ihrer Dynamik dem All so nah sind wie der neuronalen Architektur des Gehirns.
In einer auf Kohärenz, Struktur und narrativem Flow begründeten Umgebung wirkt Ploogs Werk wie ein vibrierendes Störsignal. Seine Texte sind literarische Interfaces: durchlässig, dissonant, komplex kodiert.
In der fragmentarischen Struktur von „Fickmaschine“ verflüssigen sich Begriffe wie „Figur“, „Handlung“ oder „Motiv“. Was bleibt, ist Bewegung - Motels, Kontrollräume, Bildschirme. Die Sprache wird nicht mehr zur Beschreibung herangezogen, sondern als Medium, das sich selbst thematisiert: zerschnitten, gesampelt, auf Loop geschaltet. Die „Fickmaschine“ ist nicht bloß technisches Artefakt. Sie funktioniert als Metapher in allen möglichen Verhältnissen - Mensch & Maschine, Körper und Text, Subjekt und Simulation.
Thematisch oszilliert der Text zwischen Medientheorie, Körperkritik und paranoider Welt- und Weitsicht. Die Fiktionalisierung von Kontrollsystemen, die Verschränkung von Pornoästhetik und Bürokratenstil, die ständige Re-Kontextualisierung von Sprache und Bildmaterial promovieren den Text zu einer Antizipation späterer Diskussionen über Bio-Politik, digitale Entkörperlichung und Subjektauflösung.
Die „Fickmaschine“ will nicht gefallen, nicht verstanden, nicht konsumiert werden. Vielmehr wird der Leser selbst Teil des Systems - wird hineingezogen in eine Feedback-Schleife aus Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, aus Signal und Störung. Der Leser ist Komplize.
Die „Fickmaschine“ bleibt eine verstörende Auseinandersetzung mit dem medialisierten Subjekt der erweiterten Gegenwart. Der Text ist ein Systemabdruck - ein seismographisches Protokoll des Begehrens im Zeitalter seiner kybernetischen Erfassung. Seine Technik des assoziativen Schreibens mit wilden Schnitten und Collagen ist kein Selbstzweck, sondern eine poetische Rebellion gegen starre Realitätsbegriffe. Das Schreiben wird zum Mittel der Fortbewegung in unbekannte Bereiche des Selbst und der Zukunft - zum inneren Raumflug, der mit äußerer Astronautik koinzidiert. Dabei bedient sich Ploog vorbewusster und mythologischer Bilder, die als dem kollektiven Unbewussten abgezogenen Materialschichten in den Texten mitschwingen.
Was Ploog besonders auszeichnet, ist seine visionäre Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz und neuronalen Netzwerke. Bereits 1988 reflektiert er über intelligente Computer, die Aufgaben wie „die Unterscheidung feindlicher von eigenen Waffensystemen, Handschrifterkennung, Qualitätskontrollen und autonomes Autofahren“ übernehmen können. Er unterscheidet dabei die neuronale Seite des Gehirns von der psychologischen und stellt die Frage nach der Grenze zwischen diesen Bereichen - eine Debatte, die heute im Kontext transhumaner Prozesse und neuronaler Epigenetik besonders relevant ist.
Seine literarischen Entwürfe einer „sprachlosen Sprache“ - basierend auf Sensoren, die Gehirnströme in Wörter übersetzen - lassen Ploog als einen Vordenker erscheinen, der KI nicht nur als Technik, sondern als poetisches und philosophisches Vehikel einschätzt. Die Verbindung von innerer und äußerer Astronautik wird so zum Symbol für eine Zukunft, in der Mensch und Maschine verschmelzen.
Ploogs Werk ist eine faszinierende Synthese aus Avantgarde-Literatur, philosophischer Reflexion und futuristischer Technologievision. Seine Texte fordern das Lesen als Erlebnis heraus, das mit sprachlichen Pirouetten und Hebefiguren spielt, um neue Denk- und Fühlräume zu eröffnen.
Motel USA und das Schreiben im Transit
In Motel USA (1974) wie auch in anderen Werken entwirft Ploog eine Poetik des Transitraums - fragmentarisch, ortlos, atmosphärisch dicht. Motels, Flughäfen, Cockpits. Den Leser erwartet eine Montage aus Beobachtungen, Reflexionen und Streubildern. Die Struktur des Textes ist episodisch. Der Stil changiert zwischen poetisch verdichteter Beschreibung - „Motels sind die Kathedralen der Rastlosen“ - und kritischer Ironie. Dabei nutzt Ploog synästhetische Bilder und eine präzise Sprache, um Atmosphären einzufangen, die sich konventioneller Erzähllogik entziehen.
Zentral in Ploogs Werk ist die Ästhetik der Mobilität. Nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sprachlich und medial ist sein Schreiben durchlässig. Ploog interessiert sich für das Fragmentarische, für Texte, die mehr senden als erzählen. Das zeigt sich besonders deutlich in seiner Faszination für die Kommunikation im Flugraum. Der Autor selbst sagt:
„Ich fliege nicht, um zu fliegen - ich fliege, um zu schreiben.“
Diese Haltung prägt seine literarische Praxis. Das Cockpit wird zum Schreibraum, der Funkverkehr zur Textstruktur, der Pilot zum Grenzgänger zwischen Realität und Imagination.
Im Gegensatz zu Rolf Dieter Brinkmann, der an der Körperlichkeit und Erdhaftigkeit seiner Sprache festhält, zieht Ploog eine Luftlinienästhetik vor - leicht, flüchtig, rhythmisch. Seine Texte vernetzen sich intertextuell etwa mit Paul Bowles oder William S. Burroughs, ohne sich dabei je festzulegen. Das Schreiben bleibt ein poetisches Navigieren durch kulturelle Räume, mediale Kodes und sprachliche Schichtungen.