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2025-07-12 17:18:27, Jamal

„Ploog, West End“ - Texte von und über Jürgen Ploog

Wie nähert man sich einem Autor, der sich konsequent jeder literarischen Verortung entzogen hat? Wolfgang Rüger und David Ploog, die Herausgeber von „Ploog, West End“, gelingt mehr als nur eine bloße Werkschau. Der aufwendig gestaltete Band versammelt erstmals bislang unveröffentlichte Materialien aus dem Nachlass: Tagebuchauszüge, Briefe, Collagen, Fotografien. Dazu kommen Erinnerungen von Weggefährten und literarische Reflexionen jüngerer Autoren, die Ploogs Werk neu vermessen.

Wolfgang Rüger, David Ploog, „Ploog, West End“, Westend Verlag, 347 Seiten, 25,00 €

Der Reader eröffnet - ohne biografische Sentimentalität - einen vielstimmigen Zugang zu einem Schriftsteller, der wie kein anderer für eine deutsche Spielart des Cut-up-Verfahrens steht. Ploogs Texte sind assoziative Transitprotokolle, seine Bilder ein Archiv körperlicher Intensität, seine Sprache ein Sensorium für Grenzzonen zwischen Realität und Halluzination.

Trotz gelegentlich fast ehrfürchtiger Tonlagen liefert die Sammlung ein erstaunlich lebendiges Porträt. Er zeigt Ploog nicht nur als stilistischen Einzelgänger, sondern als figurativen Knotenpunkt eines literarischen Unterstroms, der sich lange unterhalb der Kanonschwelle bewegte - und heute eine neue Bewertung mit Renaissancecharakter erfährt.

Für alle, die sich mit der Geschichte der literarischen Avantgarde im deutschsprachigen Raum beschäftigen - oder den „Solitär des deutschen Undergrounds“ zum ersten Mal entdecken wollen - ist das Werk mehr als ein Einstieg: Es ist ein poetisches Kompendium aus Sprache, Bild und Erinnerung, das Ploogs multimedial-anarchisch-

Der fliegende Flaneur

Jürgen Ploog ist der fliegende Flaneur. Die Flugbahn ist sein Trottoir. Startbahn und Jetstream statt Boulevard und Magistrale. Lounge, Stopover, Delay. Zuhause ist der Langstreckenpilot u.a. in dem, so sagte er es, „Nicht-Ort“ Frankfurt. Seine Texte sind Freihandelszonen der Wahrnehmung. In den Transitbereichen der globalisierten Welt registrieren und dechiffrieren Ploogs Protagonisten Kodes und Betriebssysteme. Sie sind ästhetisch isoliert, distanziert, hyperbewusst in ihren Rollen.

Dandy in der Zwischenzone

Cut-up ist mehr als ein literarisches Experiment, es ist eine Haltung, die Realität selbst als fragmentiert und doch bedeutungsvoll zu begreifen. Ploogs Umgang mit dieser Technik, die William S. Burroughs und Brion Gysin prägten, entfaltet sich als radikale Antwort auf die Zerklüftung unserer Wahrnehmung in der Mediengesellschaft.

„Die Welt ist ein abgekartetes Spiel.“

Ich weiß nicht mehr, wo ich den Satz aufgeschnappt habe. Er passt perfekt zu dem fliegenden Textagenten Ploog. Er schätzte Bogarts tiefgefrorenes Understatement - eine Rose im Knopfloch der Vergeblichkeit, melancholisch, trotzig, zeitlos.

Essayistisches Delirium

Jürgen Ploogs „Straßen des Zufalls“, erschienen erstmals 1983, ist keine klassische Biographie und keine lineare Würdigung, sondern ein essayistisches Delirium, das William S. Burroughs als interplanetarischen Spracharbeiter, als Agenten einer subversiven Neurogrammatik präsentiert. Ploog beschreibt sein Idol als Hacker, der die planetarischen Kontrollinstanzen austrickst und lahmlegt und eine „totale Abwesenheit zerebraler Kontrolle“ anstrebt - als strategische Sabotage der Realitätsmatrix. 

„Straßen des Zufalls“ ist Hommage - und Diagnose einer kulturellen Verspätung und zugleich ein poetologisches Manifest. Es dokumentiert die Durchquerung des deutschen Zeitlochs durch radikale Sprachspiele und vermittelt, wie Gegenkultur sich nicht einfach importieren lässt, sondern neu erfunden werden muss - als ästhetischer und existenzieller Akt. 

Inmitten der poetischen Cyberpunk-Simulation wird die Leerstelle des deutschen Undergrounds sichtbar. Ploog erinnert an die späte Geburt einer Gegenkultur, die im deutschsprachigen Raum nicht als organisches Phänomen, sondern als mythologischer Import verstanden wurde. Während in den USA die Beat-Bewegungen bereits institutionalisiert und kommerzialisiert waren, konnte in Deutschland „Underground“ noch als rebellische Projektionsfläche dienen - eine diskursive Transferverzögerung im transatlantischen Kulturverkehr.

Ploog selbst ist der kybernetische Chronist im „Zeitloch“, der mit seinen „Cut-up-Delirien“ nicht nur Sprache zersetzt, sondern auch die starre deutsche Nachkriegskultur sprengt, indem er in technomedialen Erregungsräumen neue Formen subjektiver Elektrisierung entwirft.

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„Die Fickmaschine. Ein Beitrag zur kybernetischen Erotik“ erschienen 1970 bei Expanded Media Editions in Göttingen, herausgegeben von Udo Breger, ist ein semiotischer Sprengsatz - Sprache als Sabotage und als Mittel eines radikalen Widerstands gegen eine Gesellschaft, die Lust, Rausch und Körperlichkeit sanktioniert. Ploog - wie auch Rolf Dieter Brinkmann - schreiben gegen eine deutsche Spracharmut an, die Geschichte verdrängt und Wahrnehmung verneint. Ihre Texte sind Ereignisse der Intensität, kein bloßes Erzählen.

Die paradoxe Gestalt des Undergrounds - in den USA längst zur Pose und zum Denkmal verkommodifiziert, in Deutschland 1970 noch als rebellischer Mythos lebendig - zeigt die asymmetrische kulturelle Spannung. Der radikale Filter, den Brinkmann bildet, ist weniger Übertragung als Neuerfindung. Ploogs kybernetisches Erzählen antizipiert eine Zukunftsliteratur. 

Aus der Körpermitte

Das Fragment wird zur Form. Es entsteht eine Atmosphäre der Gegenwärtigkeit, die oft performativ wirkt - also so, als würde der Text im Moment des Lesens gerade erst entstehen.

Jürgen Ploogs Ansatz lässt sich im Kontext posthumaner Theorien fruchtbar machen. Er denkt den Autor nicht als Ursprung, sondern als Übertragungseinheit, als cybernetic relay. Sein Schreiben ist durchdrungen von technologischer Affizierung - Audio-Samples, Loops, elektronische Rhythmen werden nicht bloß im Text referenziert, sondern strukturieren seine Form. Fragmentierte, polymorphe Netzwerke, die eher an neuronale Verschaltungen erinnern als an traditionelle Narration, ersetzen jedwede Linearität. In diesem Sinne kann Ploogs Werk als frühe literarische Annäherung an das Denken der Assemblage (Deleuze/Guattari) gelesen werden – der Text als Maschine, der Autor als Interface, das Subjekt als operative Fiktion.

Brinkmann dagegen schreibt aus einer Körpermitte heraus, in der Sprache immer schon Begehren ist - brüchig, überreizt, aggressiv. Seine Wut richtet sich nicht nur gegen gesellschaftliche Zustände, sondern gegen die Sprache selbst, gegen ihren Ordnungszwang, gegen ihre zäh gewordene Syntax. Auch bei ihm findet eine Entgrenzung statt – aber weniger technisch vermittelt als existentiell aufgeladen, getragen von einem fast verzweifelten Wunsch nach Unmittelbarkeit, nach einer Sprache, die atmen, fließen, berühren kann.

Beide Autoren umkreisen ein zentrales Moment: die Wiederaneignung von Sprachleiblichkeit. Gegen eine Sprache, die im Verdacht steht, Werkzeug der Verdrängung, der Ordnung, der ideologischen Kontrolle zu sein, setzen sie einen Text, der berührt, der affiziert, der stört – und gerade dadurch neue Erfahrungsräume eröffnet.

Brinkmanns Körperpolitik - Der Körper als Widerstandszelle

Brinkmanns Körperpolitik ist nicht idealistisch, sondern konkret. Es ist eine Politik der Mikro-Wahrnehmung - ein radikales Ernstnehmen des sinnlichen Weltbezugs. Gerade durch die Banalität des Alltags (Supermärkte, Zigarettenautomaten, Straßenszenen) wird das Politische erfahrbar: Das Subjekt reklamiert seine Spürbarkeit zurück. Schreiben als Existenzform.

Er geht damit über das hinaus, was oft unter Subjektivität verstanden wird. Es geht nicht um Innerlichkeit im psychologischen Sinne, sondern um Verankerung im Körperlichen, im Spürfeld, in der Erregung.

Körperpolitik heißt hier auch: Der Körper als Archiv und Resonanzraum. Als Terrain der Reibung mit Standards. Brinkmann verzichtet auf distanzierende Ironie. Er meint es ernst.  

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Jürgen Ploog verstand das Schreiben als eine „Arbeit an sich selbst“. Über seine Protagonisten sagte er: „Wirkliche Menschen sind das nicht, es sind Impulse meiner Sehnsüchte & Ängste, die menschliche Gestalt angenommen haben.“  

In den Jahren der Euphorie nach dem Fall der Mauer und der Hoffnung auf einen neuen kulturellen Aufbruch, sah Ploog im Ostberliner Druckhaus Galrev eine Plattform, um seine literarischen Visionen zu verwirklichen. Er glaubte, im Prenzlauer Berg Autoren-Komplizen gefunden zu haben - Gleichgesinnte, die bereit waren, die Grenzen traditioneller Literatur zu sprengen und den Geist einer neuen, offenen Zeit einzufangen. Diese Zeit der kulturellen Öffnung war für ihn mehr als nur ein politischer Wandel; sie war ein Versprechen, das gesellschaftliche und künstlerische Fragmentarische in produktive Bahnen zu lenken.

Ploogs Erwartungen an Galrev waren hoch. Er hoffte auf ein Forum, das die Experimentierfreude fördert und zugleich den Austausch zwischen Underground, Avantgarde und einer neugierigen Leserschaft ermöglicht. In dieser Gemeinschaft sah er die Möglichkeit, seine poetische Haltung - die Anerkennung der Fragmentierung als conditio humana und ästhetische Ressource - nicht nur zu artikulieren, sondern lebendig zu gestalten. So verband sich in Ploogs Engagement eine kritische Reflexion auf die gesellschaftlichen Umbrüche mit einer tiefen Hoffnung auf künstlerische Erneuerung.