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2025-07-21 11:25:48, Jamal

Algorithmische Mimikry

„Language is a virus from outer space.“

Was William S. Burroughs einst als paranoide Sentenz in den Orbit der Gegenkultur schleuderte, klingt heute weniger nach Drogenpoetik als nach Diagnose. Sprache, so WSB, ist kein neutrales Medium, sondern ein infektiöser Code - eine invasive Struktur, die sich ihrer Wirte bemächtigt, sich vervielfältigt, mutiert. Burroughs war weder Linguist noch Biologe. Seine Texte sind Versuchsanordnungen, Cut-up-Laborberichte - Montageflächen für das, was die Sprache mit dem Bewusstsein macht, sobald man ihr freie Hand lässt. Bedenken Sie die KI-Geschwindigkeitsmargen.

Wolfgang Rüger, David Ploog, „Ploog, West End“, Westend Verlag, 347 Seiten, 25,00 €

Virale Vision

Burroughs‘ virale Vision wurde in den 1970er Jahren von Jürgen Ploog in den deutschen Sprachraum übertragen. Ploog dekodierte Sprache in seinen kybernetischen Collagen, als das, was sie längst geworden war: ein Systemrauschen zwischen Körper, Medium und Maschine. Seine Texte kultivieren eine proto-poetische Kommunikation, die sich jenseits verbaler Rationalität bewegt – ein sensorisches Schreiben, das weniger Bedeutung erzeugt als Signale verarbeitet. Wahrnehmung wird bei Ploog zum aktiven Ortungssystem: ein Radar, auf das Sprache wie ein Echo trifft. Schreiben heißt: Interferenz herstellen – zwischen biologischem Trägermaterial, technischen Netzwerken und semantischen Fragmenten.

Ploogs Verständnis von Text als kybernetischem Prozess lässt sich heute beinahe prophetisch lesen. Denn was in seinen Montagen noch als Science-fiktionale Möglichkeitsform erscheint, ist mit dem Aufstieg generativer KI zur kulturellen Realität geworden.

GPT repliziert Sprache mit beispielloser Geschwindigkeit und Anschlussfähigkeit - aber ohne Bewusstsein, ohne Intention, ohne jedes „Ich“. Was sie produzieren, ist algorithmische Mimikry von Bedeutung. Kein Sprechen, kein Denken - bloße Sinnsimulation. Darin liegt ihre virale Kraft. Ihre Leere ist ihr Potenzial. Der semantische Eindruck ersetzt die semantische Substanz. Sprache vermehrt sich. Die Benutzer sind nicht mehr Autoren, sondern Übertragungsinstanzen, Replikatoren, Hosts.

Die Sprache hat den Menschen verlassen. Sie braucht ihn nicht mehr, um sich fortzupflanzen.

Die Ästhetik des Zirkulierens

Honoré de Balzac schuf das Sittengemälde der bürgerlichen Moderne. Balzacs monumentales Werk, insbesondere „La Comédie humaine“, ist ein literarisches Panorama des expandierenden Kapitalismus, bürgerlicher Aufstiegshoffnungen, urbaner Transformationen und restaurativer Machtstrukturen im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Balzac ist der Chronist einer sich rationalisierenden Welt, in der Geld, Status und Intrige Triebfedern des sozialen Lebens sind. Seine Figuren sind häufig getriebene, kalkulierende, aber auch tragisch verstrickte Existenzen in einem System, das sie übermannt.  

Ploogs Werk ist ein Sittengemälde jener milden Dystopie, die im Nachgang der bürgerlichen Ordnung noch größeren Verwerfungen die Tür öffnet. Störungen, Signalsprünge und multiple Perspektiven beherrschen die Szenen. Das Schreiben kartografiert ein fluktuierendes Bewusstsein, das durch Zeitzonen, Frequenzspektren, archaische und kulturelle Schichtungen driftet.

Reale Orte verschmelzen mit medialen Konstruktionen.  Ploog formuliert eine Poetik, die sich der Erzählung als linearer Form verweigert. Stattdessen erzeugt er Texte, die sich wie elektronische Impulse verhalten: sprunghaft, hybrid, anschlussfähig. Die Erfahrung des Fliegens - nicht als technischer Vorgang, sondern als existenzielles Raumgeschehen - bildet die Infrastruktur dieser Sprache.

Ploog kultiviert eine Form von proto-poetischer Kommunikation, die sich jenseits der verbalen Rationalität ansiedelt - ein sensorisches Schreiben, das an die Frühformen neuronaler Netzwerke erinnert. Text begreift er als kybernetischen Prozess, als Informationsaustausch zwischen Körper, Medium und Maschine. Seine Wahrnehmung ist ein Radar, auf das Sprache wie ein Echo trifft.