Durchaus gewöhnlich
Zwei Missverständnisse bestimmen die Wahrnehmung von Rolf Dieter Brinkmann. Sein literarisches Schaffen wird häufig als Reaktion auf den anglo-amerikanischen Underground verstanden, dessen ästhetische und inhaltliche Impulse vor allem in den 1960er und 1970er Jahren eine wichtige Rolle spielten. Diese Sicht verkennt ein zentrales, bislang wenig beachtetes Phänomen. Brinkmann antizipiert Underground-Charakteristika in seinen frühesten Arbeiten. Seine erste, prominent veröffentlichte Geschichte, „In der Grube“, erschienen 1962 in der Anthologie Ein Tag in der Stadt (Kiepenheuer & Witsch), beschreibt einen Transitmoment. Ein Zwischenaufenthalt führt die Hauptperson in Brinkmanns Geburtsstadt Vechta. Als habe er mit Lesern gerechnet, die seine Prosa vor Schwierigkeiten stellt, ergänzt der Zweiundzwanzigjährige den Text mit einem Kommentar: „Die Handlung … beschränkt sich darauf, dass die Hauptperson in der Stadt ankommt und sie wieder verlässt. Der Zustand der Person ist der einer wachen Ohnmacht.“ Der Debütant betont: „Alles ist durchaus gewöhnlich.“
Der anglo-amerikanische Underground ist allerdings Verstärker und Katalysator für Experimente mit fragmentierten und transitiven Formen.
Brinkmanns Nachlass löste ein schweres Erdbeben in den Landschaften der Literatur aus. Die postumen Publikationen erfuhren eine so starke Rezeption, dass diese Betrachtungen den jungen Brinkmann förmlich überwucherten. Viele Interessierte begreifen ihn nur als verdüsterten Dichter. Das verfehlt das Wesentliche. Schließlich ist der Nachlass von Brinkmann nicht autorisiert worden. Das ist auch eine Rezeptionsanomalie, die eine Diskussion verdient.
Seit der Veröffentlichung von Rom, Blicke (1979) dominiert das Bild des apokalyptischen Brinkmann. Das ist der „Schakal von Metropolis“, ein Endzeit-Chronist. Dabei gerät der frühere Brinkmann aus dem Blick - ein spielerischer, zorniger, formbewusster Autor.
Die Notiz als Existenzform
Brinkmann hinterließ einen umfangreichen Nachlass, der zu einem großen Teil aus Materialsammlungen besteht – die Notiz als Existenzform - Nächte voller kreativer Ergüsse, ungefiltert festgehalten.
Prosaperlen
Du hast einen begabten und vielleicht auch verwilderten Kumpel, der schreibt gern nachts im Rausch ganze Kladden voll. Er schmeißt sie nicht weg, weil er weiß, alle zehn Seiten ist ihm eine Prosaperle herausgerutscht. Er hat sie aus sich herausgeschrieben. Jetzt versteckt sich die Perle in einem Wust von Redundanzen und unsäglichem Gelaber. Verstehst du das.
Ja, ich verstehe das sehr gut. Dein Vergleich bringt es perfekt auf den Punkt. Der Nachlass wirkt wie ein dichter, ungeordneter Texthaufen - stellenweise brillant, flächendeckend wirr, trostlos, ungerecht, geifernd - bei dem man die wahren Perlen erst herausfiltern muss. Ohne sorgfältiges Lektoriat denunziert jede Verbreitung das literarische Erbe.
Genau. Dein Kumpel hat zehn Kladden vollgeschmiert, keineswegs mit der Absicht das schriftliche Krautundrüben so zu publizieren. Die Kladden bergen Rohstoff, der geformt werden muss.
Der Kumpel hatte niemals die Absicht, sich einer öffentlichen Betrachtung der Notate auszuliefern. Er kommt bei einem Autounfall ums Leben. Seine Frau veröffentlicht die ungeordnete Materialsammlung und erklärt den Rohstoff mit seiner überschaubaren Perlenladung zum werkimmanenten Manifest und authentischen Gesamtkunstwerk.
Jetzt verstehe ich das Wort Rezeptionsanomalie. Die Frage ist doch, was wäre gewesen, wenn eine diskrete Hüterin der Dichter-Persona die Konvolute eingelagert hätte für eine nachkommende Generation wissbegieriger Philologinnen.
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In der Konsequenz entstand ein Bild von Brinkmann, das kaum noch den Dichter zeigt, der er ist.