Kybernetische Prophetie - Jürgen Ploogs Visionen von KI und neuronalen Netzwerken
Als Jürgen Ploog 1970 Die Fickmaschine. Ein Beitrag zur kybernetischen Erotik veröffentlicht, existieren weder Internet noch personalisierte Computer. Das Schreiben ist ein mechanischer Akt. In der analogen Welt entwirft Ploog literarische Szenarien, die heute, im Zeitalter von KI und neuronalen Netzen, eine frappierende Aktualität aufweisen.
Von der technischen Reproduzierbarkeit zur technischen Entgrenzung
Ploogs Texte lesen sich wie seismographische Protokolle des medialisierten Subjekts im Zeitalter seiner technischen Entgrenzung. In dem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935/36) beschreibt Walter Benjamin, wie technische Reproduzierbarkeit (Fotografie, Film) die „Aura“ des Kunstwerks zerstört und damit auch die traditionelle Beziehung zwischen Subjekt und Kunst, zwischen Wahrnehmung und Welt, verändert. Kunst wird zur Ware. Wahrnehmung wird technisch vermittelt. Das Subjekt wird medialisiert.
Entgrenzung des Subjekts
Ploog setzt dort an, wo Benjamin aufhört - in einer Welt, in der nicht mehr nur Kunst, sondern das Subjekt selbst reproduziert, kodiert, modularisiert wird. In seinen Texten zeigt sich nicht mehr bloß eine Veränderung der Wahrnehmung, sondern eine Transformation des Subjekts in Datenströmen. Das Subjekt verliert seine Kohärenz. Wo Benjamin von Film und Fotografie spricht, exponiert Ploog Monitore, Interfaces, Netzwerke. Benjamin analysiert, Ploog lebt das Experiment literarisch aus.
Ploogs Œuvre lässt sich als Fortsetzung des Benjamin'schen Passagenwerks lesen. Während Benjamin den Wandel der Wahrnehmung beschreibt, beschreibt Ploog den Wandel der Identität. Medien erzeugen Subjekte. Das markiert eine Verschiebung von der Frage „Was macht Technik mit der Kunst?“ hin zu der Frage „Was macht Technik mit dem Ich?“ - ein Wechsel, den Ploog radikaler und prophetischer begreift, als es die medientheoretische Debatte seiner Zeit vermochte.
Ploogs Texte sind Systemabdrücke. Bereits 1988 reflektiert er über intelligente Computer, die Aufgaben übernehmen könnten wie Handschrifterkennung, autonome Fahrzeugsteuerung, oder die Unterscheidung feindlicher von eigenen Waffensystemen. Er erkennt früher als viele, dass die Zukunft der Maschinen in der Übernahme komplexer kognitiver Prozesse liegt.
Ploogs Unterscheidung zwischen der neuronal-funktionellen und der psychologischen Seite des Gehirns verweist auf eine bis heute relevante Debatte. Was ist Denken? Was trennt maschinelles Lernen von menschlichem Bewusstsein? Ploogs Ausschweifungen streifen nicht nur kybernetische Theorie, sondern auch Fragestellungen, die heute unter dem Begriff der neuronalen Epigenetik oder im transhumanistischen Diskurs verhandelt werden.
Besonders visionär erscheinen Ploogs Entwürfe einer sprachlosen Sprache - Kommunikation, die nicht mehr über Lautbildung oder Schrift funktioniert, sondern in Schnittstellen zwischen Gehirnströmen und Sensorik. Was heute in Neurointerfaces oder Brain-Computer-Interfaces technisch erprobt wird, ist bei Ploog bereits literarische Praxis: Texte als Protokolle innerer Raumflüge und mentale Kybernetik.
Ploog dachte Technik nicht als externes Werkzeug, sondern als Subjekterweiterung. Die Verschmelzung von Mensch & Maschine, Körper und Kode ist bei ihm nicht dystopisch, sondern poetisch - ein Versuch, neue Formen des Begehrens, der Wahrnehmung, der Kommunikation zu denken.
Heute, wo KI nicht nur technische Systeme steuert, sondern auch Kunstwerke generiert, Sprache erzeugt und mit dem Menschen in Dialog tritt, erscheinen Ploogs Texte wie vorweggenommene Kommentare zu einer Welt, die erst entstehen musste. Seine Fiktionen sind nie einfach nur literarisch - sie sind Experimente mit der Zukunft.
Ploog war ein poetischer Kybernetiker. Er ahnte, dass das, was wir heute als künstliche Intelligenz bezeichnen, weniger eine Frage der Technik als eine Frage des Subjektbegriffs ist.