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2025-08-11 18:19:41, Jamal

Jürgen Ploog in seinen eigenen Worten

„Es gibt kein richtiges Lesen im falschen Leben. Das Lesen hat sich verändert."

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„Ohne Denken ist Lesen unmöglich."

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„Ich wollte (schon als Kind) schreiben, weil mich Schreiben nicht realen Zwängen unterwarf. Schreiben macht Vorgänge und Gefühle handhabbar."

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„Der Pilot in Uniform ... gibt eine lächerliche Figur ab. Ich erinnere mich, dass ich aus diesem Grund etwa 3 Jahre lang nicht zum Schreiben kam. Danach flog ich Langstrecke und dabei drängten sich Situationen und Zustände auf, die ich festhalten wollte. In einem Hotelzimmer in New York oder einer Bar in Bangkok etwa war ich in flüchtigen Augenblicken assoziativen Bildern ausgesetzt, die nur in dieser einmaligen raumzeitlichen Konstellation auftauchten."

Von der Schreibmaschine zum Brain-Computer-Interface

„Die simpelste Form ist, 2 beliebige Seiten … senkrecht zu zerschneiden & die 4 Hälften in vertauschter Reihenfolge wieder zusammenzusetzen…“ Jürgen Ploog

In einem Gespräch mit Martina Weber erläutert Ploog seine Arbeitsweise: Er verwendet eigene und fremde Texte - insbesondere, um Atmosphäre zu erzeugen. Früher zerschnitt er „brachial völlig fremde Texte“ wie Kriminalromane oder Pornos.     

Ploog wird mitunter in einer musealen „Cut-up-Schublade“ abgelegt, als letzter deutscher Burroughs-Adept, der mit Schere und Kleber wilde Textflächen erzeugte. Das ist zwar nicht falsch, es blendet aber aus, wie sehr Ploogs Arbeit den Dialog zwischen Mensch & Maschine vorwegnimmt - und zwar Jahrzehnte bevor Begriffe wie Neural Networks, Brain-Computer-Interface oder Machine Learning in den Mainstream sickerten.

Machine Learning (ML) ist ein Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz (KI), bei dem Computermodelle aus Daten lernen, ohne explizit dafür programmiert zu sein. Das System erkennt Muster.  

Ploog erkennt im Cut-up schon ein Modell für Datenflüsse, algorithmische Kombinationen und nichtlineare Informationsarchitektur. Er schreibt Texte, die wie Protokolle eines hybriden Bewusstseins funktionierten – halb organisch, halb maschinell.

Das medialisierte Subjekt
Seine seismographischen Protokolle sind mehr als bloße Sprachspiele. Sie haben etwas von User-Logs. Ploog schickt Akteure in die Textarena, deren Wahrnehmung bereits durch Filter, Sensoren und Signale gesteuert wird - ähnlich wie wir es heute über Smartphones, Wearables oder neuronale Interfaces erleben.

Vordenker des „sprachlosen Sprechens"
Seine Ideen, Gehirnströme direkt in Wörter zu übersetzen, klingen heute wie eine Blaupause für Brain-Computer-Interfaces (BCIs) und Neurofeedback-Technologie. Im 20. Jahrhundert war das Science-Fiction, heute ist es ein Forschungsfeld.

Innere & äußere Astronautik
Ploog verknüpft das Erkunden innerer Bewusstseinsräume mit der technologischen Expansion ins All – eine Metapher, die sich perfekt auf heutige Diskussionen um virtuelle Realität, transhumane Körperkonzepte und KI-gestützte Sinneserweiterung übertragen lässt.

Wenn man Ploog heute liest, nicht als literarischen Cut-up-Haudrauf, sondern als frühen Theoretiker des kybernetischen Selbst, öffnet sich ein ganz neues Werkprofil. Er wird dann zu einem medienarchäologischen Vorläufer heutiger KI-Debatten – ein Autor, der bereits in den 1970er Jahren die semantische, sensorische und ethische Verschmelzung von Mensch und Maschine antizipierte.

Ploog antizipiert nicht nur technologische Entwicklungen, er simuliert bereits ihre Erfahrungsdimension – also wie es sich anfühlt, wenn Wahrnehmung, Gedächtnis und Identität durch maschinelle Prozesse moduliert werden.

Eine unsichtbar-allgegenwärtige Kraft verändert das Bewusstsein

In seinem Essay Simulatives Schreiben (2008) reflektiert Jürgen Ploog über die Wechselwirkungen von Technik, Wahrnehmung und literarischer Praxis. Er zeigt, wie technische Innovationen - insbesondere die Dampfkraft und der elektrische Strom - nicht nur die materielle Welt, sondern auch das menschliche Bewusstsein transformierten. Während die Dampfkraft als sichtbare Energiequelle ein Fortschritts- und Beschleunigungsbewusstsein hervorbrachte, entzieht sich der elektrische Strom der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung. Diese Unsichtbarkeit führte zum „Zusammenbruch des kausalen Weltbildes", da Wirkung und Ursache nicht mehr direkt beobachtbar waren.

Eine unsichtbar-allgegenwärtige Kraft verändert das Bewusstsein - In einem Interview mit Martina Weber (2016) präzisiert Ploog diese Überlegungen. Er betont, dass gerade die „unsichtbaren Kräfte" des Stroms das Verständnis von Realität erschütterten. Aus der Destabilisierung des klassischen Ursache-Wirkungs-Denkens ergaben sich neue Perspektiven auf Zufall und Assoziation.

Die technischen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts schufen neue epistemische Bedingungen, die literarische Experimente provozierten. Während die Dampfkraft ein Bewusstsein für sichtbare Dynamik hervorbrachte, markiert der elektrische Strom den Eintritt in eine Ära des Unsichtbaren, in der literarische Verfahren die Instabilität von Sinn und Bedeutung produktiv machten.

Ploog befragt poetische Antworten auf die Wirkungen technischer Kräfte.

„Cut-up & andere Techniken, die Burroughs einsetzt, mit denen noch vor wenigen Jahren die Fraktion der literarischen Sekundär-Adepten nichts anzufangen wusste, die sie kopfschüttelnd nicht-registrierte, sind heute weitgehend Lese- & Schreibgemeingut" (Weber, 2016).

Begabung

„Simulatives Schreiben" rekonstruiert Prozesse, Wahrnehmungen und innere Zustände. Schreiben wird zum experimentellen Denkraum, zum Labor für Wechselwirkungen von Technologie, Bewusstsein und ästhetischer Praxis.

Nach Ploog ist es ein Irrtum zu glauben, dass jemand, der gern und vielleicht sogar gut schreibt, automatisch ein Schriftsteller sei. Freude an einer Tätigkeit und technische Fertigkeiten reichten nicht aus. Erfahrungen, die über bloße Vorlieben hinausgingen, erwerbe man nur in einem Zustand, der sich in einer avantgardistischen Praxis einstellt. Da gerät man in eine Beziehung zu Sprache, Bewegung und Erfahrung, die ein eigenes Feld erschließt und die Wahrnehmung von Welt, Zeit und Selbst verwandelt.