Im Maschinennebel
Swinging London, Mitte der 1960er Jahre. Ein deutscher Buchhändler mit polnischen Wurzeln, „in der Schule war ich der Polacke", arbeitet in London in seinem Beruf und entdeckt den literarischen Underground.
Was war der Schlüssel des publizistischen Undergrounds?
Der Schlüssel zum publizistischen Underground war Selbstermächtigung in Mikrostrukturen. Keine Gatekeeper, keine Gremien, keine Hierarchien. Stattdessen Mimeograph, Offset, Cut & Paste, Low Budget, High Voltage. Jeder konnte Herausgeber sein. Die Little Mags waren flüchtige Zellen einer radikalen Jetztzeit - schnell produziert, wild verbreitet, poetisch aufgeladen, gegenkulturell kodiert.
Das war keine literarische Bewegung, das war ein Verfahren - Vervielfältigung gegen Ohnmacht, Gestaltung gegen Institution.
Literarische Bückware
Die Stadt ist voller Mods. Aber vielleicht kommt es Janek auch nur so vor, weil ihm der Mod-Style am besten gefällt. Es ist Dienstagmorgen, die Carnaby Street döst noch, als der Zwanzigjährige in einem Laden an der Ecke D'Arblay Street das Gitter hochzieht. Gulliver's Books gleicht einem Fingerhut in seiner Winzigkeit. In den Regalen stapeln sich Penguin-Ausgaben, französische Taschenbücher, amerikanische Imports. Aber das, was unter dem Tresen liegt, die literarische Bückware, das ist Janeks Schatz: eine lose Sammlung selbstgemachter Magazine, direkt aus der Szene – My Own Mag, Fuck You / A Magazine of the Arts, International Times, Floating Bear.
Ein Stammkunde - ein heruntergerockter Jazzpianist - hatte Janek vor Monaten ein Heft dagelassen: ein hektisch getackerter Druck, Cover aus recyceltem Karton, schiefe Schreibmaschinentypen, Zeichnungen, Gedichte, Wut. Janek konnte in der ersten Sichtungsnacht nicht schlafen. Es war, als hätte jemand die Sprache aus dem Elfenbeinturm geholt und ihr die Schuhe ausgezogen.
Mimeograph Revolution
Janek hörte sich um. Ein Typ namens Jeff Nudell sprach von „Mimeograph Revolution". Jeff gehörte zur Entourage von Allen Ginsberg. Der ikonische US-Beatpoet weilte in London und gab da die Parolen aus. Sein Verkündungsstil war legendär. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas Stärkeres.
Ja, Janek war ein Mod. Er hauste in Soho. Seine Bude lag über dem Plattenladen in der Berwick Street. Ein grotesk prekär möbliertes Zimmer. Ausgestattet mit einem Coin-operated heater, einem Schlitzkasten für 1-Shilling-Münzen. Die Heizspirale sprang erst an, wenn Münzen eingeworfen wurden. Auch der Strom im Zimmer wurde über einen Automaten geregelt. Die Steckdosen funktionierten nur bei eingeworfenem Geld, genauso wie die Gemeinschaftsduschen. Die Wasserlaufzeit betrug vier Minuten pro Münze. Wer nicht nachlegte, duschte kalt zu Ende.
Maggie grinste: „Better be quick, tiger."
Es klickte leise, dann ging das Licht aus. Janek fluchte. Maggie kramte in ihren Sachen: „Letzte Half Crown - willst du Wärme oder Musik?"
Janek rauchte am Fenster. Er tippte an seinem Zine - The Folded City.
Ein Zine ist eine selbstgemachte, oft kleine, unabhängige Publikation. Zines sind in DIY-Subkulturen (Do It Yourself) beliebt.
Maggie, im Unterhemd, barfuß, mit einer Tasse Tee, setzte sich hinter ihn, legte die Stirn an seinen Nacken. Ihre Stimme war rau.
„Du tippst wie jemand, der sich erinnern will, bevor es passiert."
Er drehte sich um. Ihre Knie berührten sich.
„Und du klebst Bilder, als wäre jede Ecke ein Geheimnis."
Jimi Hendrix sang: Hey Joe, where you goin' with that gun in your hand?
Beide hörten zu, mächtig berührt von dem neuen Sound.
Maggie sagte: „Ich hab' Hendrix im Bag O' Nails gesehen. Er spielte, als würde er mit seiner Gitarre schlafen."
Janek grinste.
„Wie du mit deiner Schere."
Maggie warf sich aufs Bett, das Haar ein Nest auf dem Kissen.
„Willst du wissen, was Ginsberg gesagt hat, als ich ihn auf Hendrix ansprach?"
Janek nickte ergeben.
„Er meinte: ‚Same electricity. Different plug'."
Sie klebten gemeinsam an einer neuen Seite. Maggie schnitt eine Fotografie von Hendrix aus der International Times. Janek platzierte eine Zeile von Ginsberg:
"Holy the supernatural extra brilliant intelligent kindness of the soul!"
Ihre Finger berührten sich auf dem Klebstoff.
*
Maggie sang Foxy Lady, während Janek sie beobachtete. Seine Gedanken bildeten einen Stromkreis mit seinen Gefühlen.
„Was würdest du tun, wenn ich morgen zurück nach Deutschland müsste?"
Maggie antwortete, ohne sich umzudrehen:
„Dann hätte ich wenigstens den Abdruck deines Geistes auf einer Seite."
Das war so scharfsinnig wie fadenscheinig. Janeks Bedürftigkeit machte die Antwort kein Ende. „Aber ich würde dich nicht gehen lassen", sagte sie, vielleicht nur um ihn mit dem Augenblick zu versöhnen. Maggie war in einem Backsteinviertel im East End geboren. Als Tochter einer alleinerziehenden Fabrikarbeiterin kannte sie das Leben der unteren Schichten in all seinen ätzenden Facetten. Beengte Verhältnisse, raue Nachbarn, Gewalt auf der Straße. Alkohol als Heilmittel und Schönfärber. Schon früh hatte Maggie gespürt, dass ihr Herz mehr verlangte. Es verlangte nach Schönheit und Freiheit und nach einer Welt, in der man nicht nur überleben, sondern leben konnte. Maggie begeisterte sich für die Mod-Kultur. Die klaren Linien der Mode, die Musik, der Stilstolz - für Maggie war der Mod-Style Rüstung, Tarnung und Ausweg zugleich. Doch ließ sich die Spaltung nicht einfach überwinden. In der Gesellschaft ihrer Mod-Freunde entbehrte sie etwas und in ihrer Ursprungsumgebung entbehrte sich auch etwas. Ihr deutscher Freund verstand nicht genug Englisch, um diese Differenz zu kapieren.
Jimi Hendrix im Bag O'Nails - Soho 1967
Der Abend begann in häuslicher Tristesse. Der Spiegel war Verbündeter und Feind. Er hing über dem Gasherd, weil es in der Wohnung kein anderes Licht gab, das heller war als die Küchenleuchte. Maggies Mutter hatte ihn angebracht, „damit man wenigstens sieht, wie müde man aussieht".
Die Küche roch nach Haarlack. Keine Kachel ohne Sprung oder abgesplitterter Ecke. Die Tapete hielt nur noch stellenweise. Sich in der Küche zwischen Zuckerdose und Toaster zurechtmachen zu müssen, war ewige Schande und Schmach. Ein Familienstigma, wobei Familie schon hochtrabend war. Arme Mutter, armes Kind. Das war die Gleichung. Fabrikarbeiterin statt Sexarbeiterin. In dieser Gegend absolvierte man auch dann eine Hurenkindheit, wenn die Mutter nicht auf den Strich ging.
Maggie saß vor dem Spiegel auf einem Hocker, ein Bein nackt, das andere im Strumpf. Sie beugte sich vor, strich mit einem spucke-nassen Finger über das Lid und trug Kajal auf - mit einem Blick, dem die Erschöpfung eingeschrieben war. Das Kleid lag auf dem Bett. Dunkelblau, ärmellos, mit weißem Kragen. Die Naht hatte Maggie mit rotem Garn absichtlich sichtbar gemacht.
Ein Klopfen an der Tür. Die Mutter fragte:
„Gehst du wieder zu Trevor?"
Maggie antwortete nicht. Sie zog den Mantel an. Hellgrau, tailliert, drei Knöpfe. Das Innenfutter psychedelisch rot-orange, ein Fundstück aus Camden.
Bevor sie ging, warf sie einen Blick auf das kleine Foto in der Ecke des Spiegels – sie und Trevor an der Themse, zwei Teenager in zu großen Jacken. Sie klappte den Mantelkragen hoch, nahm ihre Tasche. Ein paar Straßen weiter traf sie Janek, wie verabredet.
*
Trevor stand gebirgig am Eingang. Seine Koteletten waren eine Ansage. Er hatte das Sagen in einem Territorium, in dem ständig gekämpft wurde. Er markierte sein Revier mit Zero-Tolerance-Blicken. Die Tür war sein Reich. Die Straße sein Spielfeld. Der Club seine Burg. Maggie bedeutete Janek, am Ende der Schlange zu warten. Sie durfte sich nicht mit ihm an allen anderen vorbeidrängen. Nach den Regeln der Londoner Nacht wäre es ungehörig gewesen, Trevor einfach mit Janek zu konfrontieren. Sie selbst ignorierte die Wartenden in ihrem Triumphlauf. Maggie genoss es, von Trevor in die Arme geschlossen zu werden. Er hielt sie fest. Sie spürte, wie er sie spürte, ihren Busen, ihren Bauch. Sie presste sich an ihn, solange er sie festhielt. Ihre Wangen streiften seinen Hals. Der Geruch nach Old Spice, Zigaretten, Whisky und etwas, das auf ewig zu Hause bedeutete.
„Magpie," murmelte er rau. „You're still skin and fire, huh?"
Sie lächelte gegen seine Schulter, nahm dann einen Schritt Abstand - gerade genug, um ihn anzusehen.
„Und du bist immer noch der größte Türrahmen Londons."
Er grinste. „Hätte ich gewusst, dass du heute kommst, mein Anzug wäre besser gebügelt."
„Du bist der Anzug," sagte sie. „Du bist die Tür."
Die Codes zwischen ihnen waren klar. Keine Gefühle zeigen, die in einem Club nicht schicklich waren. Keine Sätze, die nach Theater klangen. Und trotzdem war alles da. Der Stolz. Ein alter Schmerz. Das Schutzversprechen. Und das Begehren, wie ein Glutnest unter Asche.
Trevor blickte über ihre Schulter in die Menge.
„Der Typ mit dem Mantel - ist das dein Pole? Der mit den Schreibmaschinengedichten?"
Maggie nickte.
„Janek. Er hört zu, wenn ich schweige."
Trevor schnaubte leise. Keine Wut und keine Verachtung. Vielleicht die Spur einer Irritation, der Trevor gewiss wenig Raum geben würde.
„Na dann."
Sie berührte kurz seine Brust. Es bedeutete beiden viel.
Der Club war dunkel, eng und tropisch schwül von der Kondensation. Der Laden schwitzte nicht weniger als die Leute. Ein Sauerstoffrinnsal floss durch die Stickigkeit. Es war kaum noch Luft im Raum. Aber niemand hörte auf, zu atmen. Janek lehnte an der Bar, ein Bierglas in der Hand, die Augen auf die Bühne gerichtet. Neben ihm saß Maggie mit perfekt gestyltem Haar, die Lippen knallrot. Das Signal entsprach der Working-Class-Ästhetik und durchbrach die Mod-Distinktion.
Das Publikum vibrierte zwischen Erwartung und Ekstase. Janek kämpfte im Ansturm auf den Tresen stumm um seinen Platz. Es hagelte Bestellungen. Plötzlich stand Trevor vor Maggie und ihrem neuen Poeten. Janek streckte Trevor zuversichtlich die Hand entgegen. Der Hüne ignorierte die Hand. Er hätte es abwegig gefunden, Janek die Revierordnung zu erklären. Aber in dieser Welt war Maggies Freund ein Niemand, während Maggie zur Familie gehörte. Noch einmal setzte Trevor eine Marke ab. Keinem Barkeeper entging, wie er Maggie berührte und sie ihn entgegenkommend anlächelte.
Die ersten Akkorde von Purple Haze ... Jimi Hendrix betrat die Bühne, die Menge drehte durch.
Ergriffen ergriff Maggie Janeks Hand.
„Fühlst du es?", flüsterte sie.
Janek nickte, den Blick auf Hendrix gerichtet, doch seine Gedanken wanderten zu Trevor, dem Brecher aus der Arbeiterklasse, der mit Maggie in einer Weise verbunden war, die Janek schmerzlich ausschloss. Trevor war Maggies erster richtiger Freund gewesen. Zweifellos spielte er in ihrem Leben immer noch eine große Rolle. Wie konnte das sein. War er ein Rocker im Geist von Elvis Presley, Gene Vincent und Eddie Cochran? Eine nostalgische Restfigur? Ein Residuum, Hybrid, Übergangsphänomen? Ein Schwellenmann, dem man einmal nachsagen würde: Er hörte noch Rockabilly, wusste aber schon, dass Punk vor der Tür stand? Für Janek waren solchen Fragen zentral. Er konnte sich keinen Konkurrenten außerhalb jener Ordnung denken, die seinen Widerstand gegen das Establishment rahmte.
Denkt Maggie an Trevor ...
Seine Koteletten waren erst einmal zu groß für sein Gesicht gewesen. Er hatte sich brüderlich vor sie gestellt, als die Jungs mit den Mopeds zu dicht kamen.
„Sie gehört zur Familie", hatte er gesagt.
Er war zu früh groß und stark gewesen. Niemand konnte ihm gegenüber mit der Faust beglaubigen. Maggie mochte seine Schultern und die Extravaganz seines schüchternen Feingefühls. Trevor machte ihr vorsätzlich konventionelle Komplimente. Er ließ nie nach in seiner Aufmerksamkeit. Er trug sie auf Händen. Kein bürgerlicher Verehrer bewies je so viel Taktgefühl wie Trevor.
Maschinennebel
Im Bag O'Nails gab es keine Klimaanlage. Nur einen resignierten Ventilator über der Bar - einem Sinnbild der Materialermüdung. Tabak- und Grasschwaden und der Maschinennebel packten alles ein. Maggie drängte auf die Tanzfläche. Sie schwitzte, das Kleid haftete an ihrem Rücken.
Eine weibliche Stimme aus dem Off
Working Class Glamour mit einem Stich Ironie. Ich weiß, was ich sage. Natürlich sehe ich Maggies Mod-Allüren, aber ich sehe auch, was hinter der Fassade ist. White Trash vom Feinsten. Prekär seit 1770. Ein Charles Dickens unserer Tage hätte seine Freude an Maggie.
Sie vibrierte. Sie war nicht mehr bei Janek, sie war auf der Hendrix-Frequenz mitten in diesem Schwitzkasten. Sehnsucht und Suff, das war ihr Programm. Hendrix peste über die Bühne wie ein epileptischer Prophet. Seine Gitarrenspiel war Sex. Und Maggie bewegte sich, als zöge Hendrix an ihren Saiten. Janek verstand Maggies Wettlauf mit der Zeit nicht. Er hatte keine Ahnung von der kurzen Spanne, die ihr blieb. In der sie dabei sein durfte. Allein ihrer jugendlichen Schönheit verdankte sie den Anstrich von Zugehörigkeit in der Mittelstandssphäre des literarischen Undergrounds. Sie hatte kein Talent, das sie leuchten ließ. Sie stümperte einfach nur vor sich hin und gab die Collagen-Prinzessin, um eine Rolle spielen zu können, die sich nicht in der untersten Schublade erschöpfte.
Maggie spürte, wie Janek sie an sich zu binden versuchte. Auch jetzt strebte er nach Bestandsgarantien, wenn auch nur unter Ausschluss einer Verpflichtung zur Ehe. Er wollte alles für nichts. Janek war so ein guter Junge. Nur, dass er nichts begriff.