Die große Verzauberung
„Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd.“ Küchenweisheit
Einst arbeitete ich als Küchenhelfer in einem Edelrestaurant. In der Sphäre niedriger Dienste bedeutet Gelassenheit Kompetenz. Auf Positionen, die nach Eskalation schreien, braucht man einen Stoiker für den letzten Dreck. Oft kommen die Spezialisten aus einer anderen Kultur und haben ihre Schmerzpunkte nicht an den Stellen, wo die Mehrheitsmeisten empfindlich sind. Nach einer Zwölfstundenschicht machen sie pfeifend Feierabend. Ein Bier hob mich in den Himmel meiner Zufriedenheit. Ein besonders herzliches Verhältnis verband mich mit der Commis de Cuisine. Die Jungköchin hieß Judith. Gemeinsam unternahmen wir Ausflüge in den Mikrokosmischen Orbit, auch Kleine Himmlische Zirkulation genannt. Man beschreibt so den Energiefluss entlang der Meridiane Ren und Du. Der Ren-Meridian verläuft entlang der Rumpffront von der Zungenspitze bis zu den Genitalien. Der Du-Meridian beginnt am Anus und endet am Gaumen. Mund und Anus bilden natürliche Unterbrechungen der Leitbahnen. Gelingt eine Verbindung, ergibt sich der Kleine Universelle Kreislauf. Einmal erreichten wir den Kurzschluss zeitgleich und fanden uns im aufschäumenden Flow überwältigend. Im Zen-Kosmos durchziehen den Menschen zwei Magistralen, die spürbar werden, wenn er zur Ruhe kommt und die Aufmerksamkeit nach innen richtet. Ren-Mai beginnt am Perineum und steigt über das Schambein und den Unterbauch auf. Er berührt den Versorgungsknoten unseres frühen Lebens (Nabel) und zieht weiter zur Brustmitte, wo Atmung und Herzschlag sich absprechen. Von da wandert er zur Kehle, gleitet zur Unterlippe und erreicht schließlich die Zungenspitze. Das ist der Yin-Pfad. Das Yang-Pendant betreibt seinen Aufstieg über die Wirbelsäulen-Route. Kreuzbein/Brustwirbel/Schulter/Nacken/Scheitel/Stirn/Gaumen. Die Eindrücke verdichten sich zu dem, was wir seit Jahrhunderten als innere Zirkulation erleben. In der Qi-Sphäre nennt man das den Mikrokosmischen Orbit. In der Neurophysiologie beschreibt man es als innere Kohärenz. Gelegentlich servierte mir Judith ein mit Mozzarella, Parmesan, Steinpilzen, Haselnüssen, Fenchel und Parmaschinken gefülltes Schweinekotelett auf geliertem Jus de veau. Tage später füllte sie Rouladen vom Galloway Rind mit Seezunge, Melonenmus und Selleriestiften, die in Bauchspeckstreifen gepackt waren. Das Restaurant gehörte zu einem Wellness-Multiplex. Frequentiert wurde es zumal von den Gästen eines Retreats mit Schwimmbad (auf dem Dach), Hamam und japanischem Steingarten. Das war eine Welt der weißen Bademäntel. Gepflegt wurden die Kieselbeete von einem Karesansui-Meister. Er predigte die Reduktion auf das Wesentliche. Klare Linien, viel Ma - Leere. Judith fand den Gartendesigner bald interessanter als mich. In einer Übergangszeit beteiligte sie mich an ihren Wissenszuwächsen. Gemerkt habe ich mir Wabi-Sabi - ein ästhetisches Konzept, das die Vergänglichkeit, Unvollkommenheit und Schlichtheit von Dingen wertschätzt. Gefeiert wird die Schönheit im Unvollkommenen.