Arktischer Sonnenschein
Zwei Wochen später schlugen wir in Kiruna auf. Guanajuato liegt in der Sierra Madre, Kiruna fast am Polarkreis im arktischen Dauersonnenschein. Wir holten den Mietwagen - einen Land Rover - ab und staffierten uns arktisch aus. Im Terrain-Response-Modus fuhren wir zu dem Ferienhaus (mit einem in der Nachbarschaft deponierten Schlüssel) einer deiner ewig unsichtbaren Freunde auf einer Insel im Torneträsk-See, nahe Abisko. Ich hatte schon vom Abisko-Spirit gehört. Die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben, eine skandinavische Outdoor-Ästhetik ohne Pose. Raw elegance. Robuste Sneakers mit technischer Optimierung. Raue Oberflächen, klare Linien. Die Materialien erzählten ihre Geschichten. Mein Stil passte zur lokalen Ästhetik - reduziert, klar, nüchtern. Keine Koketterie. Kohärenz lautete das Zauberwort der Stunde.
Abisko war kein Rückzugsort, kein Refugium der Weltferne, sondern ein Labor im geologischen Sinn; ein Vorposten langfristiger Prozesse. Fjäll und Moore, Wind und Wasser - und das Zentrum eines ökologischen Gefüges. Rural meets Research. Die Codes waren organisch, datenbasiert, ablesbar in Schichten, Messreihen und Jahresringen.
Du hattest so viele überaus generöse Freunde und Bekannte, ohne dass ich je auch nur einen zu Gesicht bekommen hätte. Du warst ein Meister reibungsloser Abläufe und lebtest in zwei Geschwindigkeiten. Wir bewegten uns oft in steinzeitlichem Tempo. Wir liebten Wüsten, Wälder, Berge. Gemeinsam spürten wir den Herzschlag der Erde und den Atem des Windes. Gleichzeitig beschleunigte dich ein mysteriöses Netzwerk. Ein E-Mail hier, ein kurzer Anruf da. Nie musstest du jemanden an Verpflichtungen und Termine erinnern. Der Geldfluss versiegte nicht. Die Welt reagierte auf dich wie ein Pferd auf Schenkeldruck.
Wir akklimatisierten uns in einer von Fjälltäler und Moorseen modulierten Landschaft. Zwei Tage nach unserer Ankunft trafen wir vormittags um zehn Annika Mossberg. Sie war Anfang vierzig, aufgewachsen in einer Siedlung am Rande des Abisko-Nationalparks, Tochter eines Rangers. In den Streifgebieten halbwilder Rentierherden heißen die Wildhüter „Parkförvaltare“ und „Naturvårdare“. Annika arbeitete in einer pädagogischen Einheit als Spezialistin für geologische Bildungsformate, mit Fokus auf Plateau-Stabilität und periglaziale Formationen.
Die Gegend war einst von Gletschern überformt. Dann entstanden Moore und Feuchtgebiete. Annika beobachtete ein Übergangsbiotop. Im Frühjahr zogen Elche durch die Täler. Der Boden veränderte sich ständig in Frost-Tau-Zyklen. Die Rangerin lebte auf beweglichem Land.
„Was bedeutet das für Sie?“
Annika betrachtete mich prüfend.
„Dass ich mir nichts auf meine Stabilität einbilde.“
Später sagte sie:
„Ich glaube nicht, dass der Park mich braucht. Aber ich brauche ihn. Um mich zu verorten.“
Ich hätte sie umarmen können.