Barfüßige Frauen
„Nur wer barfuß geht, hört die Stimme des Waldes. Nur wer auf dem Erdboden schläft, kennt die Sprache der Wurzeln."
Ich war noch klein, als ich begriff, dass meine Großmutter ein besonderer Mensch war. Sie ging zu jeder Jahreszeit barfuß.
„Wenn du die Erde nicht spürst, wirst du dich selbst verlieren", sagte sie einmal, als ich meine Schuhe nicht finden konnte und heulend im Türrahmen stand. Heute glaube ich, dass sie meine Schuhe aus dem Verkehr gezogen hatte, um mich auf ihren Weg zu führen. Die Leute im Dorf nannten sie „die Nebelfrau".
Yongping, mein Geburtsort, liegt in einem Tal in Süd-Yunnan. Da berühren die Berge den Himmel und der Nebel steigt morgens aus den Teeblättern.
„Schuhe machen dich taub."
Meine Großmutter sagte, wer barfuß ginge, würde nicht nur gehen, sondern von der Erde gehört werden.
„Du denkst, du läufst über den Berg. Aber es ist der Berg, der dich trägt."
„Das Leben ist keine Technik, Lin Mei. Es ist ein Strom. Wir dürfen ihn nicht stören."
Sie ließ mich barfuß im Tau stehen, lehrte mich durch die Fußsohlen zu atmen.
„Wenn du lauschst, kannst du hören, wie der Berg atmet. Und wenn du still bist, erinnert sich dein Blut daran, dass du auch ein Baum bist."
Meine Großmutter sammelte Kräuter. Sie kannte die Wege des Körpers. Ihr verdanke ich meine Urszene, das Erlebnis einer zweiten Geburt. Sie initiierte mich. Sie lehrte mich, was sie täglich praktizierte. Sie war Bewegung. Wenn ich fragte, warum sie keinen Namen für ihre Übung hatte, lachte sie leise.
„Solange du einen Namen brauchst, hast du es noch nicht verstanden."
Es war zuerst Qigong, hatte aber nichts mit dem zu tun, was ich später lernte. Als ich älter war, zeigte sie mir ihre Deutung von Taiji.
„Ein Blatt wehrt den Wind nicht ab. Es fliegt mit ihm. Es tanzt den Wind."
„Das Wasser fließt. Der Berg bleibt. Du bist beides."
Sie zeigte mir, wie man Wasser schöpft, ohne es zu stören. Wie man ein Blatt pflückt, ohne den Zweig zu verletzen. Wie man atmet, als sei man Wind.
Heute bin ich selbst Lehrerin. Du nennst mich Meisterin Lin, aber in mir lebt jemand stiller, älter, barfüßiger als ich es bin.
Mein Name ist Lin Mei He. Ich bin der Pflaumenkranich im Wald. Ich habe meinen Namen von meiner Großmutter. Sie brachte mich zu Lian Hua. Sifu Lian zog mir die Energie aus der Brust, sobald ich unachtsam wurde. Sie war Weng Chun- und Wing Chun-Meisterin und hatte Wurzeln in White Crane. Mit sechzehn wurde ich auf ihre Empfehlung in einem Kloster in der Nähe von Quanzhou aufgenommen. Dort lernte ich Chan-Meditation, Schreiben mit Wasser auf Stein.
„Jede Technik will zurück ins Herz. Sonst ist sie leer."
Ich blieb sieben Jahre.
Warum Nordhessen, fragst du. Du wirst lachen, Hei Long. Ich kam ursprünglich als Nachfolgerin eines Qigong-Meister aus Zhejiang nach Deutschland. Er wollte sich zur Ruhe setzen und suchte eine Garantin der reinen Lehre für einen Kreis von wohlhabenden Schülern in einer ländlichen Gegend Deutschlands. Ich landete in Frankfurt, nahm einen Zug nach Kassel und fuhr mit dem Bus weiter. Mein Ziel war Edermünde. Versehentlich stieg ich eine Station zu früh aus. Es war April. Die Kirschbäume blühten. Ich ging zu Fuß. Der Weg führte mich zum Fluss. Ich sah das Wasser, hörte das Rauschen, roch das Moos, und wusste: Ich bin angekommen. Seitdem lebe ich hier. Und jetzt weiß ich auch warum. Du bist mein Grund, Hei Long.