Lau Ying
Fast alles, was uns ausmacht, entstand in der Ewigkeit vor dem Bewusstsein. Unsere Bewegungsmuster und unsere emotionalen Reaktionen sind Schöpfungen einer Zeit, in der kein Denken existierte. Sie liegen subkortikal gespeichert, in jenen Regionen des Gehirns, die wir mit den frühesten Wirbeltieren teilen. Dort befindet sich ein Archiv der geologischen Zeit. Die Erdgeschichte in uns – Schicht um Schicht, wie Sedimente aus Nervengewebe. Das Bewusstsein ist eine hauchdünne Kruste.
Hei Long, du bist gekommen. Der Morgen, die Bäume, der Fluss, das Kiesbett und ich haben dich gemeinsam erwartet. Ich sehe den Glanz deiner Haut, die Müdigkeit deiner Sehnen und dein unbeirrbares Herz.
Du bist da. Und das ist genug. Heute lernst du, wie du verschwindest und dabei wirkst.
Die Lektion vom Verschwinden: Lau Ying– Die fließende Form des Unsichtbaren
Lau Ying ist kein klassischer Gong-fu-Begriff und doch erfasst er eine Realität des Kampfes. Es ist das Prinzip, das dich nicht nur ungreifbar, sondern unbemerkt handeln lässt. Es wirkt resonant. Du verschwindest nicht, indem du dich entziehst, sondern indem du nicht da bist, wo man dich vermutet. Nicht in der Technik. Nicht im Widerstand. Nicht in der Absicht.
Schrittlose Bewegung
Wir beginnen im Kiesbett. Ich bewege mich auf dich zu, du weichst nicht aus, du bist einfach nicht da.
Wie du es richtig machst:
Du nimmst wahr, bevor der Impuls kommt. Du verlagerst dein Gewicht ohne sichtbare Bewegung. Du verlässt deine Form, ohne sie zu verlieren. Das nennt man: Körper-Stille bei Energie-Präsenz.
Du nimmst wahr, bevor der Impuls kommt. Du erkennst die Absicht vor der Bewegung.
Du nimmst mikroskopische Spannungsveränderungen im Atem, im Muskeltonus, im Raum wahr. Du spürst Intention, bevor Bewegung sichtbar wird.
Du verlagerst dein Gewicht ohne sichtbare Bewegung.
Das ist ein zentrales Element innerer Arbeit. Die Gewichtsverlagerung findet in den Tiefenstrukturen statt. Das sind Mikrobewegungen im Becken, spiralige Faszienspannung und Atemsteuerung. Dies ist der Kern von „moving inside while being still outside”.
Du verlässt deine Form, ohne sie zu verlieren.
Du gibst die starre Form auf, das äußere Bild. Aber du behältst die innere Struktur: Ausrichtung, Zentrum, Verbindung, Spannungsverteilung. Du bleibst im Prinzip (Formlosigkeit innerhalb der Form).Die Form ist ein Boot. Irgendwann steigst du aus und schwimmst.
Körper-Stille bei Energie-Präsenz
Innere Bewegung bei äußerer Ruhe. Energetische Wachheit im strukturellen Stillstand. Ting Jin (hörende Kraft) ohne Aktion.
Wir stehen in der Eder. Das Wasser ist kalt, der Grund instabil. Der Fluss zieht unaufhörlich an den Waden. Du stehst nicht fest, aber du fällst auch nicht. Dein Körper organisiert sich von selbst. Ich trete näher und lege meine Hand auf deine Schulter. Du weichst nicht aus. Du spannst dich nicht an. Du tust nichts. Statt einer Antwort lässt du den Kontakt nach innen sinken. Mein Impuls passiert dich. Meine Kraft findet keinen Widerstand, der sie organisiert. Sie verliert ihre Richtung. Sie wird schwer. Sie wird dein Gewicht, nicht dein Problem. Unsichtbarkeit entsteht nicht im Rückzug, sondern in deiner Unlesbarkeit. Verschwinden ist keine Technik. Es ist die anspruchsvollste Form von Gegenwärtigkeit. Nur wer nicht im Voraus sichtbar ist – nicht in Haltung, nicht in Absicht, nicht in Spannung – hat Zeit genug, nicht dort zu sein, wo man ihn sucht. Wenn du morgen wiederkommst, beginnen wir mit der ersten inneren Bewegung. Nicht sichtbar. Nicht erklärbar.