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2018-05-23 21:16:14, Jamal Tuschick

Der Offenbacher Poetikstar Safiye Can erscheint im MAIN LABOR

„Şiir Sokakta – Das Gedicht liegt auf der Straße.”

Gedichte gehören denen, die sie brauchen, sagt Safiye Can. Sie leiht Gedichten von Nazim Hikmet und anderen Klassikern ihre Stimme und das Glück des transkontinentalen Überblicks. Can schöpft mit der großen Kelle und verhilft jedem Vers zu schöner Wirkung.

„Es geht nicht darum gefangen zu sein. Sondern darum, dass man sich nicht ergibt.” – Nazım Hikmet ist nicht allein zum Paten der Gezi-Park-Proteste von 2013 und anderen landesweit florierenden Gartenpartys im Kampf gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans geworden. Die Türkei liebt ihre Dichter. In der von Deniz Utlu kuratierten Studio Я-Reihe Berlin Calling Ankara hieß ein unvergesslicher Termin „Şiir Soktakta – Das Gedicht liegt auf der Straße”. Can absolvierte ihn am dreiundfünfzigsten Todestag von Nazım Hikmet, der Dichter starb an einem dritten Juni in Moskau. Utlu rotierte in Georgien, Aleksandar Radenković und Çiğdem Teke federten durch eine von Achim Wagner zusammengetragene Protestgeschichte am Beispiel ihrer poetischen Niederschläge und Aufschwünge. Der Abend gehörte auch einer Erinnerung an die Anschläge in Ankara vom 10. Oktober 2015, die 102 Menschen das Leben kosteten. Die Protagonisten transportierten die Aufstandspoesie auf den 2013er-Schauplätzen der Hauptstadt. Man hatte den öffentlichen Raum mit Lyrik beschriftet und sich auf ein französisches Vorbild berufen: La poésie est dans la rue. Ein Anschluss lautete: „Schließt das Heft. Das Gedicht ist auf der Straße.“ Hikmets „Leben einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald“ bot sich zum Fanal an, wurde doch geholzt.

„Eine Regierung, die ihre Parks nicht achtet, wird vor der Geschichte nicht bestehen”, stand auf Putz. Die Straßenkunst machte als Hashtag-Phänomen Karriere. Universitäten wurden zu „begehbaren Lyrik-Anthologien”. Man berief sich auf Tevfik Fikret (1867 – 1915) genauso wie auf Ahmed Arif (1927 – 1991) und auf den von Can übersetzten Cemal Süreya (1931 – 1990). Ich nenne noch Orhan Veli und (1914 – 1950) Turgut Uyar (1927 – 1985). Epochemachende Kunst in die Pflicht zum Straßenkampf genommen – Can entdeckte Symbiosen zwischen malerisch maroden Fassaden und ihren Aufschriften. Sogar Rilkes Grabsteininschrift „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern” war Parole geworden. Die Aktivisten standen im Wettbewerb mit übermalenden Kolonnen im Dienst der Stadtverwaltungen. Flüchtigkeit war der zweite Name jeder lyrischen Maßnahme auf dem Kızılay-Platz und im Kuğulu Park. Can stand auf und legte los. Ich dachte an die verdichtete Unterschiedlichkeit von Offenbach – „Geboren als Kind tscherkessischer Eltern in Offenbach am Main”, so steht es geschrieben in einer biografischen Bemerkung. Die Sultane hatten eine Vorliebe für tscherkessische Odalisken. Die Sklavinnen wurden Stammmütter mächtiger Istanbuler Geschlechter. Die Gebirgsherkunft blieb in physiognomischen Eigenarten der Nachfahren markant.